DOMRADIO.DE: Warum ist das eigentlich so, dass das Fest der Geburt Jesu immer noch so eine Anziehungskraft ausübt und so viele Kirchenferne in die Messen zieht? Hat das vielleicht auch mit der Flucht vor einem Familienkoller zu tun?
Petra Jagow (Kölner Coach und Psychologin): Das kann man auf jeden Fall so sagen, denn an diesen Tagen kommen ja Menschen ohne nennenswerte Ablenkung zusammen und wollen jetzt mehrere Tage das Fest der Liebe in wechselnden Konstellationen feiern. Das ist ein so hohes Ideal, da kann man fast nur dran scheitern. Die Kirche verspricht ein Aufgehobensein und Teil einer größeren Gemeinschaft zu sein, wo man sich ein bisschen fallen lassen kann. Das ist Zuhause so viel schwerer herzustellen. Vielleicht hofft man auch, dass sich in der Kirche alle gut benehmen und sich das zu Hause fortsetzt.
DOMRADIO.DE: Der Besuch einer Weihnachtsmesse hat wahrscheinlich auch nostalgische Gründe, oder?
Jagow: Für die Kinder war das ja immer eine besondere Aufregung. Einmal der Kirchenbesuch an sich, die festlich geschmückten Räume, der Duft, die Lieder, dann auch diese etwas fremde Garderobe. Das ist etwas Geheimnisvolles. Wenn man ans Christkind geglaubt hat, dann konnte man sich vorstellen, es kommt irgendwie hierher. Und dann trifft man auf die Krippe und kann plastisch nachvollziehen, wie das damals gewesen sein mag. Das bringt viele Menschen in die richtige Weihnachtsstimmung.
Wir wissen ja alle, wie es ist: Man will feiern, es geht um schöne Geschenke und tolles Essen. Und man merkt schon, davon hängt jetzt der Erfolg von Weihnachten ab. Das macht unheimlich Druck und Stress. Da kann ja ganz viel schiefgehen. Wenn man aus diesem Stress mal rauskommen will und runterfahren, still werden möchte, dann ist die Kirche mit dem Besuch ein super Angebot. Das hat fast etwas Meditatives.
DOMRADIO.DE: Und man kommt ins Nachdenken?
Jagow: An Weihnachten lässt die Ablenkung nach, die wir das ganze Jahr haben und nutzen. Besonders seit wir diese modernen digitalen Geräte haben. Es kommt gar keine Langeweile mehr auf. Aber man kann an Weihnachten nicht einfach nur auf dem Handy daddeln, das kommt nicht gut an. Dann merkt man, das Fernsehprogramm erfüllt einen auch nicht wirklich. Und dann kommen die Fragen auf. Sind das wirklich meine Liebsten? Wie war eigentlich das Jahr? Wie ist überhaupt mein Leben? Was verbringen wir jetzt für eine Zeit? Was sagt mir das vielleicht? All das kommt dann hoch. Die meisten haben ja nicht wirklich Antworten. Das muss man ganz klar sagen.
DOMRADIO.DE: Also nehmen die eigentlich Kirchenfernen die Weihnachtsgottesdienste als eine Art umfassendes, besinnliches Angebot...? Können wir das so festhalten?
Jagow: Das kann man auf jeden Fall so sagen. Und das Minimale, was sich selbst den Kirchenfernen mitteilt, ist, dass die Geburt eines Kindes etwas sehr Bewegendes ist. Aber der etwas größere Zusammenhang, dass dieser Sohn gekommen ist, um unsere Sünden von uns zu nehmen, das erreicht die meisten erst in der Kirche.
DOMRADIO.DE: Nun hört man manchmal auch, dass die regelmäßigen Kirchgänger die Kirchenfernen, die einmal im Jahr in der Gemeinde auftauchen, auch etwas kritisch betrachten.
Jagow: Ja, für viele ist das ein Ägernis. Man kann sich denken, dass regelmäßige Kirchgänger überhaupt keine Lust haben auf die, die da reinschneien und an dem Gemeinschaftsgefühl partizipieren möchten.
DOMRADIO.DE: Für manche Christmette müssen sogar Eintrittskarten vergeben werden. Das ist ja ein bisschen schräg. Was läuft da falsch?
Jagow: Es läuft vorher schon etwas falsch. Denn die Kirchen sind unterm Jahr offensichtlich nicht attraktiv genug und können die Leute nicht vorher reinziehen. Dann läuft beim Weihnachtsgottesdienst selbst etwas falsch, denn die Kirche lässt sich ja darauf ein, dieses einseitige Programmangebot zu machen, wo wenig Mitbestimmungsmöglichkeit ist. Und es läuft auch danach etwas falsch. Nach diesem einmaligen Besuch kommt es augenscheinlich nicht dazu, dass viele so überzeugt sind, um ab dann regelmäßig zu kommen. Das setzt ja nicht ein, offensichtlich.
DOMRADIO.DE: Was ist Ihre Empfehlung für diejenigen, die wirklich nur an Weihnachten kirchliche Gemeinschaft suchen?
Jagow: Die sollten sich einfügen in das, was da läuft. Viele kommen mit einer Event-Erwartung, dass möge jetzt alles so ablaufen wie bei einer Show. Dass sie am Ende nicht klatschen, würde noch fehlen. Und sie erwarten dann auch von den regelmäßigen Kirchgängern, die die Liturgie und die Lieder kennen, dass die quasi wie Statisten dafür sorgen, dass es eine gelungene Aufführung wird. Das ist eine Anspruchshaltung, die ist an für sich nicht in Ordnung. Viele besuchen ja nicht wirklich mit Andacht einen Gottesdienst, sondern sie erwarten, dass sie hier etwas geboten bekommen. Es ist konsumorientiert.
DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie empfehlen diesen Leuten, sich innerlich mehr mit Kirche auseinanderzusetzen?
Jagow: Ja, unbedingt. Und das nicht nur in der Kirche, sondern vielleicht auch vorher und nachher. Dass man sagt: Was hat mir denn hier gefallen und was hat mir etwas gegeben? Was könnte auch das Jahr über Sinn ergeben?
Wir machen sehr viel Marktforschung. Wir haben mal etwas über Süßigkeiten an Ostern gemacht, und ich war sehr erstaunt, wie knapp unter der Oberfläche die ganze Erzählung mit dem Kreuz und der Auferstehung direkt unter der Oberfläche schlummert. Wenn man das mal zulässt, sich damit beschäftigt, dann bereichert das auch ungemein. Es ist alles noch da. Wir müssen uns nur damit auseinandersetzen.
DOMRADIO.DE: Schauen wir mal auf die andere Seite: Für die Kirchen sind volle Weihnachtsmessen eigentlich eine einmalige Chance, Kirchenferne wieder anzusprechen. Das scheint ja nicht immer wirklich zu gelingen. Was raten Sie da? Worauf kommt es an, um diese Chance nicht zu vertun?
Jagow: Auch wenn ich hingehe, weil ich ein Programm geboten bekommen möchte, fühle ich mich doch gleichzeitig wie ein Laie, der sich nicht auskennt und auch nicht so richtig weiß, was eigentlich als Nächstes kommt. Mir geht das persönlich an der Oper so. Und deshalb gehe ich vorher in die Einführung zum Stück, damit ich schon mal so eine Idee bekomme: Um was geht es denn hier? Also, warum sollte es nicht auch eine Art Einführungsgottesdienst geben?
Oder kann man nicht auch in den Wochen vor Weihnachten aktiv in der Gemeinde fragen: Wie soll der Weihnachtsgottesdienst aussehen? Ein bisschen mehr Beteiligung der Kirchgänger wäre wünschenswert. Ich mache das jetzt mal an einem Beispiel fest: Meghan Markle hat bei ihrer Hochzeit einen farbigen Prediger gehabt und einen Gospelchor. Man hat gesehen: Die hat sich da etwas gewünscht, etwas überlegt und in ihrem eigenen Sinn gestaltet. Das hat die Leute umgehauen und wirklich begeistert.
Das Interview führte Hilde Regeniter.