DOMRADIO.DE: Sie haben auf Twitter geschrieben, "wie sehr viele Menschen in Deutschland lebe ich nicht das Lebensmodell Familie sondern das Lebensmodell enger Freundeskreis. Mein Lebensmodell kommt in den aktuellen Lockdown-Beschlüssen gar nicht mehr vor". Kritisieren sie den Fokus auf die Familie?
Erik Flügge (Politik- und Kommunikationsberater): Logischerweise dreht sich der Diskurs in der Politik darum, wie man gerade Kontakte beschränkt. Das ist ja auch vollkommen klar, dass man dabei eine Lösung für Familien braucht. Allerdings dreht sich dabei die Frage nur noch und ausschließlich um das Konzept Familie, so wie es sich auch ziemlich traditionell vorgestellt wird. Vater-Mutter-Kind und wie das zusammen funktioniert, vielleicht noch mit der Oma die daneben lebt.
Wir haben aber mittlerweile einfach eine riesige Anzahl in unserer Bevölkerung von Menschen, die alternative Lebensmodelle leben. Also Menschen, die beispielsweise gar nicht in der Nähe von Verwandten leben. Das haben wir weder diskutiert, noch kommt es in den Beschlüssen ernsthaft vor. Ganz am Rande kann man, wenn man mit viel gutem Willen möchte, es da noch reindenken.
DOMRADIO.DE: Man könnte auch sagen, ist doch gerade in Corona-Zeiten ein super Lebensmodell, wenn man gerade alleine im Haushalt ist. Dann kann das Virus nicht so schnell von Person zu Person springen, oder?
Flügge: Natürlich ist es logisch, dass, wenn man Kontakte limitieren will, es gut ist, wenn sich Leute weniger treffen. Aber sind wir mal ganz pragmatisch. Nehmen wir eine Familie mit zwei Eltern und zwei Kindern. Alle haben jeweils einen Außenkontakt, treffen jeweils einen Haushalt und abends treffen sie sich beim Abendessen. Dann sitzen an diesem Tisch acht indirekte Kontakte beisammen. Diese vier Personen plus die vier, die sie draußen getroffen haben. Man hat die Zahl an dem Abend verdoppelt.
Wenn sich drei Freunde treffen, die alle gerade im Homeoffice sind und keine Kontakte in Familien haben, dann sind das weniger Kontakte. Und tatsächlich haben Menschen nicht nur das Bedürfnis sich vor einem Virus zu schützen, sondern sie haben auch soziale Bedürfnisse. Deswegen muss man im Lockdown auch aus Fragen der Psychohygiene, der psychischen Gesundheit sicherstellen, dass weiterhin Menschen soziale Kontakte haben können.
Das ist übrigens auch ein Grund, warum zum Beispiel die Kirchen Seelsorge weiter betreiben. Da könnte man ja auch sagen, das sind Kontakte, die sollte man einstellen. Nein, Seelsorge findet auch weiterhin mit Kontakten statt, weil es eben auch psychologische Bedürfnisse gibt.
DOMRADIO.DE: Der regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, hat auf Twitter sinngemäß geantwortet: es sei kein Problem, an Weihnachten könne man sich mit bis zu fünf Leuten aus egal wie vielen Haushalten treffen. Das reicht Ihnen wahrscheinlich nicht, oder?
Flügge: Michael Müller hat das tatsächlich für Berlin in seiner Landesverordnung sehr, sehr eindeutig ausdrücken müssen. Er hat das eindeutig geregelt, dass das Freunde aus fünf Haushalten sein können, dass das Verwandte sein können. Dort hat Berlin tatsächlich eine sehr viel offenere Formulierung gefunden. Aber ehrlich gesagt geht es nicht um Weihnachten. Ich feiere Weihnachten zu zweit dieses Jahr. Ich habe mit meiner Familie geklärt, dass wir das nicht zusammen machen, dass ich nicht hunderte Kilometer durch Deutschland fahre. Und das haben übrigens sehr, sehr viele Leute auch schon so geklärt und getan und für Weihnachten für sich eine andere Entscheidung getroffen.
Wir reden darüber, dass wir jetzt mehrere Wochen Lockdown haben. Ich will das mal ganz konkret machen am Beispiel meines Lebenskonzeptes. Ich habe einen Lebensgefährten und wir wohnen nicht zusammen. Wir wohnen in zwei getrennten Wohnungen und wir könnten nach den aktuellen Regeln nicht zu zweit spazieren gehen und dabei noch einen Freund mitnehmen, weil wir dann drei Haushalte sind. Das heißt, wir können zu zweit überhaupt keinen Freund mehr irgendwo draußen treffen, weil wir schlicht und ergreifend nicht zusammen wohnen. Wir sind beide dauerhaft im Homeoffice, treffen im Grunde niemanden da draußen. Das heißt, wir reden darüber, dass es eigentlich eine unter allen Infektionsgesichtspunkten relativ kontaktarme Begegnung wäre.
Auf diese Lebensmodelle, die anders sind als die klassische Familie, reagiert schlicht und ergreifend der Bund in seinen Beschlüssen aktuell sehr wenig. Sie werden kaum besprochen, sie werden auch im Vorfeld solcher Beschlüsse nicht diskutiert. Das ist kein guter Beitrag dazu, dass eine hohe Akzeptanz in der Gesamtbevölkerung für diese Beschlüsse entsteht, wenn ein signifikanter, gewichtiger Teil unserer Bevölkerung den Eindruck hat, wir werden ja nicht mal diskutiert mit unserem Leben.
DOMRADIO.DE: Welchen Alternativvorschlag zu den Kontaktbeschränkungen würden Sie der Politik da anbieten?
Flügge: Ich finde, dass zum Beispiel die Belgier ein schon sprachlich anderes Modell gefunden haben. Das klingt auf Deutsch sehr lustig, weil die von "knuffelcontacten" sprechen, die man festlegen soll. Die sagen quasi, definiere einfach wer dein liebster Mensch ist und mit diesem liebsten Menschen darfst du, egal ob du verwandt bist oder nicht, in einem sehr engen Kontakt sein.
Jetzt ist das, was wir vorgesehen haben, dass sich Menschen aus zwei Haushalten begegnen können, ja tatsächlich ein weitergehendes Konzept als ein "knuffelcontact" in Belgien. Aber nichtsdestotrotz wäre es, glaube ich, sinnvoll zu sagen, nicht mehr als Personenanzahl X sollen an einer Stelle zusammenkommen können. Das ist eigentlich das richtige Konzept für eine Pandemie.
Wenn ich das sprachlich dann noch so mache, dass es offen ist: Deine Lieblingskontakte, deine engsten Kontakte, die selbstverständlich verwandt oder eben auch nicht verwandt sein können, dann ist das etwas, was inklusiv mit der gesamten Bevölkerung kommuniziert. Wir sind in der Pandemiebekämpfung abhängig von Verständnis und Akzeptanz dieser Maßnahmen und davon, dass die Bevölkerung nicht sagt, ich werde hier nicht mitgedacht, ich gehe das dann auch nicht mehr solidarisch mit. Deswegen sind das wichtige und gewichtige Punkte.
DOMRADIO.DE: Wird denn die Akzeptanz dadurch ein bisschen torpediert, dass die Politik zum Beispiel sagt, Gottesdienste, also Treffen von mehr Menschen als die Zahl X, sind weiterhin möglich?
Flügge: Ich glaube, wenn man sich ganz genau anguckt was der Bund beschlossen hat, dann geht weiterhin der Lebensmitteleinzelhandel, die gesamte medizinisch-ärztliche Versorgung, dann haben natürlich auch weiterhin Psychologen die Möglichkeit ihre Patienten zu sehen und es haben weiterhin die Kirchen die Möglichkeit Gottesdienste zu feiern. Im Grunde genommen können sie es zusammenfassen: Was für Leib und Seele der Leute wichtig ist, bleibt bestehen.
Deswegen ist es auch richtig, dass Gottesdienste stattfinden können. Wohlgemerkt mit sehr engen Hygieneauflagen. Es ist auch richtig, dass sie an Weihnachten stattfinden können. Trotzdem ist es auch richtig allen zu empfehlen: Wenn es geht, dann nehmt den Fernsehgottesdienst. Aber wenn ihr merkt, dass es euch nicht mehr gut tut, dass ihr in Depressionen verfallt, dass ihr gerade an einen Punkt kommt an dem ihr merkt, dass Einsamkeit nicht mehr auszuhalten ist, dann ist es auch gut, dass so eine Institution wie der Gottesdienst offen hat und dass man dort hingehen kann. Natürlich muss man dabei sehr, sehr viel Vorsicht walten lassen. Aber, der Mensch lebt eben nicht allein davon sich Nahrungsmittel aus dem Supermarkt zu holen und dann alleine zuhause zu sein.
Wir haben in Städten wie Köln, Berlin oder Hamburg 50 Prozent Single-Haushalte. Das heißt, da lebt die Hälfte der Leute in der ganzen Stadt alleine. Und sie können diese Leute nicht wochenlang komplett alleine lassen und exkludieren von jedem Sozialleben. Sie sagen ja auch, besucht weiterhin eure Großeltern, macht halt einen Corona-Test, bevor ihr ins Altenheim geht und lasst sie nicht allein. Genau unter den gleichen Aspekt fallen auch die Gottesdienste. Sie sind ein Angebot der Seelsorge und deswegen ist es richtig, dass sie weiterhin stattfinden können.
Das Interview führte Gerald Mayer.