domradio.de: Wir erreichen Sie gerade auf der Insel Lesbos in Ihrem Projekt "Proti Stassi". Was genau machen Sie da?
Elias Bierdel "Borderline Europe": "Proti Stassi" ist griechisch und bedeutet "Erste Station". Wir versuchen hier seit Juni schon so etwas wie eine Erstanlaufstelle für Flüchtlinge zu bilden. Denn es gibt hier überhaupt keine staatlichen Strukturen, die helfen können. Stellen Sie sich vor, hier kommen die Menschen von der gegenüberliegenden, nahen türkischen Küste aus dem asiatischen Kontinent in irgendwelchen Schlauchbooten herübergefahren. Sie stranden an der felsigen Ostküste von Lesbos. Und da ist nichts. Da ist auch niemand, der ihnen weiterhelfen könnte. Wir versuchen hier mit Ärzten erstmal eine medizinische Versorgung zu organisieren. Wir geben Kleidung, Essen und Wasser aus und schauen besonders auf die Kinder, die mit an Land kommen. Die sind in der großen Hitze, die hier gegenwärtig herrscht, sehr schnell von Austrocknung bedroht. Aber wir wissen, dass wir die Situation insgesamt vor Ort nicht lösen können. Wir können nur dazu beitragen, sie etwas zu lindern.
domradio.de: Was sind das für Menschen, die Sie da versorgen? Wo kommen die her? In welchem Zustand sind sie?
Elias Bierdel: Die Menschen, die mit den Schlauchbooten übersetzen, sind in der Mehrheit Syrer, dicht gefolgt von der Gruppe der Afghanen. Es sind vor allem Kriegsflüchtlinge. Es kommen große Familien aus Syrien und jetzt auch verstärkt Iraker. Wir hatten Menschen aus Eritrea in der Gruppe und es kommen Kurden. Also alle, die sich von diesem Weg auf die griechischen Inseln in der Ägäis den meisten Erfolg versprechen, die sehen wir hier auch. Nicht alle Ankömmlinge wollen nach Griechenland. Viele wissen nicht einmal, dass sie sich jetzt in Griechenland befinden. Das haben ihnen die Schlepper nicht erzählt. Die meisten Flüchtlinge wollen nach Europa und fragen sich, wie es nun weitergeht. Wir haben darauf oft auch keine richtige Antwort.
domradio.de: Sie kriegen also die Not der Menschen sozusagen an vorderster Front mit. Was geht Ihnen durch den Kopf wenn Sie Meldungen aus Deutschland hören, die in etwa lauten: "Da kommen jetzt immer mehr und mehr Leute zu uns. Das können wir gar nicht bewältigen"?
Elias Bierdel: Das sind Töne, die ich hier in Griechenland auch höre. Aber hier kann ich sie eher nachvollziehen. Stellen Sie sich vor, wir arbeiten vor Ort entlang der Ostküste in den Bergdörfern, die selber nur ein paar Hundert Einwohner haben. Da kommen über Nacht manchmal mehr Flüchtlinge von der Küste heraufgeklettert als überhaupt Menschen in einem solchen Ort wohnen. Wenn sich das dann über eine Woche, einen Monat hinweg wiederholt, macht das natürlich Angst. Man muss sich klar machen, dass das eine europäische Frage ist. Wenn man sieht, wie wunderbar menschlich und offen sich die Menschen hier in Griechenland, die selber seit Jahren in einer schwierigen Situation sind, verhalten, dann denkt man doch immer: In Deutschland und den reichen Ländern in Europa gibt es doch noch Spielräume, mehr zu tun. Aber wir sehen eben auch, wie dieser Geist der Abschottung und Abschreckung, der das Geschehen an den Grenzen in den letzten Jahren bestimmt hat, noch nicht besiegt ist. Der ist immer noch vorherrschend, vor allem in Berlin.
domradio.de: In Deutschland klagen die Kommunen darüber, dass sie dem sogenannten "Ansturm von Flüchtlingen" nicht mehr gewachsen sind. Was würden Sie der deutschen Politik raten? Was wären die nächsten gebotenen Schritte?
Elias Bierdel: Was mich wirklich ärgert, ist, dass die Politiker seit Jahren - so wie wir auch - gesehen haben, was sich hier in der unmittelbaren Nachbarschaft abspielt. Ich denke vor allen Dingen an Syrien. Man musste damit rechnen, dass mit jedem Monat, die dieser Krieg weiter andauert, sich mehr und mehr Menschen auf den Weg nach Europa und Deutschland machen werden. Wie kann es da sein, dass verantwortliche Politiker von dieser Situation völlig überrumpelt sind und keine Vorkehrungen getroffen haben. Wir haben in Deutschland überall die existierenden Einrichtungen in der Hoffnung abgebaut, dass sich die Flüchtlingszahlen reduzieren würden. Jetzt haben wir den Salat. Ich bin schon der Meinung, der ein oder andere Politiker sollte so ehrlich sein und sagen: "Ich habe es vermasselt, ich habe es verpennt und ich werde jetzt alles dafür tun, um diesen Fehler wieder auszubügeln." Manche tun das auch und das gereicht ihnen zur Ehre. Aber die Behauptung, dass Deutschland nicht in der Lage wäre, mit den Zahlen umzugehen, über die wir hier reden, die ist absolut absurd. Vor allem wenn man berücksichtigt, was sich an den Außengrenzen Europas abspielt.
domradio.de: Gerade das krisengeschüttelte Griechenland ist mit der gegenwärtigen Lage schlicht überfordert. Wie müsste sich Europa Ihrer Meinung nach einschalten?
Elias Bierdel: Ich will noch weiter beschreiben, wie es hier aussieht. Hier gibt es kleine Polizeistationen auf den Dörfern, die in den letzten Jahren reduziert worden sind. Die Überstunden sind gestrichen und das Gehalt der Polizisten gekürzt worden. Das zieht sich überall durch den öffentlichen Dienst durch. Da ist vielleicht noch ein Polizist an einem Ort, an dem an einem Tag bis zu 700 Flüchtlinge eintreffen. Hier sind die staatlichen Strukturen auch so geschwächt und über die Jahre klein gemacht worden, dass sie natürlich nicht widerstehen können. Da wäre jetzt ganz dringend ganz entschlossene Unterstützung aus Europa nötig. Aber die ist nicht erfolgt. Man bekommt den Verdacht und das böse Gefühl, dass man auch diese Flüchtlingskrise dazu benutzt hat, weiter Druck auf die offensichtlich unbeliebte griechische Regierung auszuüben. Anders kann man sich gar nicht erklären, in welchem Ausmaß gerade Griechenland mit diesem großen Problem für ein kleines Land im Stich gelassen wurde.
Das Interview führte Hilde Regeniter.