Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof habe die Entscheidung der französischen Gerichte bestätigt, die Behandlung des Koma-Patienten Vincent Lambert abzubrechen, berichtet die französische Tageszeitung "Le Figaro". Damit bestätigten die Straßburger Richter demnach das in Frankreich geltende Leonetti-Gesetz, dass den Ärzten die Entscheidung überlässt, lebenserhaltende Maßnahmen abzubrechen, wenn sich der Patient nicht mehr selbst mitteilen kann.
Der Menschenrechtsgerichtshof fügte dem Urteil hinzu, die Richter seien sich bewusst über die medizinischen, ethischen und rechtlichen komplexen Fragen in diesem Fall. Das Gericht habe die ärztlichen Gutachten, die Historie des Falls und die Entscheidung des Verwaltungsgerichts geprüft und dabei keinen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention - unter anderem das Recht auf Leben - festgestellt. Da es unter den Mitgliedstaaten keinen Konsens über lebenserhaltende Maßnahmen am Lebensende gebe, liege die Entscheidung im Ermessensspielraum des jeweiligen Staates.
Die Straßburger Richter stellten fest, Lambert werde durch das Urteil des französischen Gerichts nicht seiner Rechte beraubt. Das Leonetti-Gesetz gestatte weder Sterbehilfe noch assistierten Suizid. Nach der französischen Rechtsprechung sei es jedoch den Ärzten möglich, nach Rücksprache mit nahen Angehörigen und nach bestmöglicher Ermittlung des Patientenwunsches lebenserhaltende Maßnahmen zu beenden.
Was bekommt Vincent Lambert mit?
Das ist passiert: Vincent Lambert zieht sich bei einem Motorrad-Unfall am 29. September 2008 schwere Kopfverletzungen zu, er fällt ins Koma. Ein Zustand, aus dem er seither nicht vollständig zurückgekehrt ist. Zwar bewegt er manchmal die Augen. Ob er allerdings versteht, was die Ärzte im Krankenhaus in der französischen Stadt Reims sagen, kann nicht mit Sicherheit geklärt werden. Einer seiner Ärzte spricht von möglicherweise "minimalem Bewusstsein".
Anfang 2013 beginnt das Gezerre: Vincent Lambert sträubt sich nach Einschätzung seiner Ärzte gegen lebensverlängernde Maßnahmen. Körperliche Reaktionen würden von Schmerzen des Patienten zeugen, heißt es. Deshalb wollen sie den unheilbar Kranken sterben lassen. Das sogenannte Leonetti-Gesetz erlaubt in Frankreich diese Entscheidung durch Ärzte, wenn der Patient sich nicht mehr selbst mitteilen kann. Beihilfe zur Selbsttötung ist dagegen verboten.
Konflikt unter den Angehörigen
Auch die Ehefrau, Rachel Lambert, ist einverstanden. Die künstliche Ernährung wird eingestellt, Lambert bekommt lediglich noch 200 Milliliter Wasser pro Tag zugeführt. "Vincent gehen zu lassen, ist mein letzter Liebesbeweis", sagt seine Frau in einem Interview der französischen Tageszeitung "Le Monde". "Ich wusste, dass es ein Leben war, das er so nicht wollte", so Rachel Lambert, die, wie auch ihr Mann, ausgebildete Krankenpflegerin ist. Schriftlich festgehalten hatte Vincent Lambert eine solche Willensbekundung jedoch nie.
Doch die Eltern und zwei der acht Geschwister des Koma-Patienten klagen vor dem Verwaltungsgericht in Chalons-en-Champagne gegen die Entscheidung der Ehefrau, die Ärzte müssen im Mai 2013 die künstliche Ernährung wieder aufnehmen. Rachel Lambert erzählt daraufhin, sie habe einen Brief der traditionalistischen Piusbruderschaft erhalten, denen die Eltern des Koma-Patienten nahe stehen. Darin werfe man ihr vor, den Todesprozess ihres Mannes zu unterstützen und bitte sie, ihn leben zu lassen.
Will Lambert am Leben bleiben?
Auch in der Öffentlichkeit kritisieren die Eltern ihre Schwiegertochter und die Ärzte. Sie werfen ihnen vor, ihren Sohn zu misshandeln, in dem sie ihm die Nahrung verweigern. Ende 2013 beginnt der behandelnde Arzt eine neue Kampagne, um das Leben Lamberts zu beenden. Eine Gruppe von Medizinern entscheidet erneut, die Ernährung einzustellen. Erneut protestierten die Eltern. Erneut spricht das zuständige Gericht ihnen im Januar 2014 Recht zu. Im Urteil heißt es, es könne nicht sichergestellt werden, dass der Patient tatsächlich keine lebensverlängernden Maßnahmen wolle.
Die Ärzte des Koma-Patienten reagieren empört. Rachel Lambert klagt schließlich vor dem obersten französischen Verwaltungsgericht. Dieses entscheidet im Juni 2014, die lebenserhaltenden Maßnahmen dürften beendet werden.
Urteil entscheidend für künftige Regelungen zur Sterbehilfe
In einem Eilantrag wenden sich die Eltern daraufhin an den Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Die Einstellung der lebensverlängernden Maßnahmen verstoße gegen das Recht auf Leben und das Verbot menschenunwürdiger Behandlung, argumentieren sie. Die Ernährung wird per einstweiliger Verfügung wieder aufgenommen.
Das jetzige Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs könnte künftig als Bezugspunkt für Regelungen zur Sterbehilfe in den anderen 47 Mitgliedstaaten des Europarates dienen. Die Eltern Lamberts kündigten bereits zuvor an, bei einer Niederlage in Frankreich erneut vor Gericht ziehen zu wollen.
Erst im März hatte Frankreich das seit 2005 geltende Leonetti-Gesetz zur Sterbehilfe geändert. Die Französische Nationalversammlung billigte eine Änderung, wonach eine "tiefe und kontinuierliche Sedierung" für unheilbar kranke Patienten in bestimmten Situationen künftig erlaubt ist. Vertreter katholischer und evangelischer Kirchen, sowie die jüdische Gemeinde und die Muslime in Frankreich hatten kritisiert, die Sedierung bis zum Tod sei der Einstieg in die Beihilfe zur Selbsttötung.