Michael Köhlmeier über sein neues Buch ‚Die Märchen‘

Das Märchen als Spiegel der Seele

Teufel, Zwerge und Engel sind märchenhafte Wesen. Märchen sind weit mehr als nur Geschichten für Kinder, sagt Michael Köhlmeier. Sie sind ein Spiegel des rätselhaften Lebens. 'Die Märchen' heißt sein neues prächtiges Märchenbuch.

Michael Köhlmeier / © Peter-Andreas Hassiepen
Michael Köhlmeier / © Peter-Andreas Hassiepen

„Märchen haben sich die Menschen früher erzählt – vor allem am Abend, wenn sie in ihren dunklen Häusern saßen und nicht wußten, was da in der finsteren Ecke ist, wenn nur eine Kerze auf dem Tisch stand“, sagt Märchenexperte Michael Köhlmeier. „Das hat dann auch etwas von einer Beichte oder heute würde man sagen von der Psychoanalyse. Wenn jemand über sein eigenes Problem nicht direkt sprechen konnte, weil er dem Problem nicht direkt in die Augen sehen konnte, dann hat er es indirekt über eine Geschichte getan“.

Märchen zur Reinigung der Seele

Von wegen Märchen sind nur etwas für Kinder. Früher hätten die Menschen, ohne dass sie es so benannt hätten, ihren kargen und oft grausamen Alltag verarbeitet, indem sie sich Märchen erzählt hätten und darin habe sich symbolisch ihre Welt gespiegelt, sagt Köhlmeier. „Wenn sie sich zum Beispiel Grimms Märchen anschauen, dann sind da sehr, sehr viele Märchen, die handeln von Armut natürlich aber auch von sexuellen Übergriffen. Darüber konnte man einfach nicht sprechen, so hat man irgendwie seine Seele gereinigt“, sagt der Autor. Dabei sei vieles geheimnisvoll verworren geblieben, so wie das ganze Leben ja auch rätselhaft und geheimnisvoll verworren sei. „Wir leben in einem naturwissenschaftlichen Zeitalter, das uns – trotz aller Skepsis, die wir inzwischen haben - dennoch den Optimismus eingepflanzt hat, dass alles letztendlich erklärbar ist, alles“, sagt Köhlmeier, „und dann stoßen wir auf eine literarische Form, die nur dadurch lebt, dass in ihrem Kern etwas Rätselhaftes ist. Dann können wir mit unserem Bewußtsein, alles ist erklärbar, nix mehr anfangen“.

Märchen sind abgrundtief grausam

Das Leben sei eben größer als die Wissenschaft. Es lasse sich auch von Naturwissenschaftlern nicht einfangen und zähmen. Märchen aber auch die Musik, die Kunst entzögen sich einer wissenschaftlich Erschließbarkeit, ist der Autor überzeugt. Märchen, und auch das ist rätselhaft, sind oft abgrundtief grausam. Da rollen Köpfe, da wird auf glühenden Kohlen getanzt, da werden Kinder im finsteren Wald alleine gelassen. „Wir können den Grausamkeiten im Märchen in die Augen schauen, weil sie sich vom Konkreten abspaltet“, sagt Köhlmeier. Das sei ein großer Gewinn, weil uns im Märchen alle urmenschlichen Dinge, zu denen eben auch die Grausamkeit gehöre, in einer von der jeweiligen ganz konkreten Psyche abgespaltenen Form begegne. Und man sie da viel gelassener betrachten könne. Denn das Märchen wertet nicht, es zeigt das ganze Leben, so wie es eben ist, und so wie es eben sein könnte. Das Häßliche werde Schönheit, das Kleine werde groß und umgekehrt, denn es gehe auch um den „Irreales, die Möglichkeitsform. Ich mache den Vorhang ein Stück auf und schaue hinaus in ein Land, das sein könnte, von dem ich nichts weiß, und wenn ich etwas wissen will, muss ich mich eben in dieses Land aufmachen“, ist Köhlmeier überzeugt.

Der Heilige Ägidius war ein Narziss

In dem neuen Märchenbuch mit 151 Köhlmeier-Märchen kommen auch Heiligenlegenden vor. Neu vom Autor Köhlmeier erzählt, die er ganz subjektiv ausgewählt hat. „Ich habe mir einfach einige Heiligenlegenden ausgesucht, von denen ich gedacht habe, dass sie etwas hergeben“, sagt er. „Zum Beispiel der Heilige Ägidius, der eine solche Selbstzucht betreibt. Aber das gleichzeitig auf eine solche egoistische Art und Weise tut, weil er sich dadurch das Himmelreich erkaufen will. Der ist mir ungeheuer modern vorgekommen. Das hat mich interessiert. Der ungebändigte Narzissmus, der die Unterwürfigkeit benutzt und sie zu einer überheblichen egoistischen Pose macht", so deutet der Autor die Ägidius-Legende.

Aber was ist das nun? Ist eine Heiligenlegende etwa auch ein Märchen oder ein Mythos, eine Sage oder Legende? „Heute wird da eine Unterscheidung getroffen, hier das Märchen, dort die Sage, da der Mythos“, kritisiert Köhlmeier die scheinbar so unterschiedlichen Genre-Kategorien. „Ich glaube, dass diese Unterscheidung rein akademisch ist. Der Leser kennt nur zwei Kategorien von Geschichten – gute und schlechte und sonst gar keine“.

Märchen lassen sich nicht eindeutig festlegen

Köhlmeiers Märchen sind – davon kann sich jeder überzeugen – gute Geschichte, weil sie wuchtig, witzig und wild erzählt sind und weil sie das Rätselhafte im Leben rätselhaft lassen, geheimnisvoll anziehend. „Märchen sagen auf jede Frage 'Ja‘", erklärt der Autor. "Wenn der eine sagt: 'Bist du eine reine Vorpubertätsgeschichte', dann sagt das Märchen 'Ja'. Und wenn der andere dann antwortet: 'Aber du bist doch auch eine Geschichte, die mit der Pubertät gar nichts zu tun hat, sondern erst viel später ansetzt', dann sagt das Märchen 'Ja‘. Und einer sagt: 'Du arbeitest doch mit der Symbolik des Religiösen', dann sagt das Märchen 'Ja‘. Es ist eine stumme Schönheit, die jedem recht gibt und letztlich kommen wir drauf und sagen, 'das kann doch gar nicht sein, wenn das Märchen sowohl das als auch das als auch das ist – das schließt sich doch gegenseitig aus', dann sagt das Märchen auch darauf: 'Ja‘“, erklärt der Märchenexperte Michael Köhlmeier schmunzelnd die Märchen, die sich von keiner Deutung vereinnahmen lassen.


Quelle:
DR