Arbeitslosigkeit, Armut und Abwanderung

Migration hat viele Gesichter

Viele Rumänen verlassen ihr Land. Es gibt auch Initiativen, um Perspektiven in der Heimat zu schaffen. Eine Reportage anlässlich der Renovabis-Pfingstaktion 2017, die am kommenden Sonntag im Kölner Dom feierlich eröffnet wird.

Autor/in:
Markus Nowak
Migration hat viele Gesichter / © Markus Nowak (Ren)
Migration hat viele Gesichter / © Markus Nowak ( Ren )

Dichter Nebel liegt oft über Petroşani und verhüllt dann die vielen Fördertürme der Stadt in den Dunstschwaden. Die Stadt im Schiltal im Westen Rumäniens ist umgeben von über 2.000 Meter hohen Felsmassiven. Einst galt Petroşani als Stadt der Kohle, und die gesamte Region mit den Dutzenden Zechen als das "Ruhrgebiet Rumäniens". Bis in den 1990er Jahren die ersten Fördertürme angehalten wurden. Das brachte gewaltsame Proteste hervor – jedoch vergeblich. "Früher hatten wir über 100.000 Minenarbeiter im Tal", erinnert sich Alexandru-Mihai Kelemen, der hier geboren wurde. "Heute leben gerade einmal 6.000 Menschen vom Bergbau, und die letzten Zechen sollen 2018 schließen."

Knapp 70.000 Einwohner zählte die Stadt Ende der 1980er Jahre; heute ist es nur noch die Hälfte, Tendenz fallend. "Die meisten sind auf der Suche nach Arbeit abgewandert", sagt Kelemen. Viele seien in der Hauptstadt Bukarest auf Jobsuche, die meisten aber gingen in den Westen. Als Koordinator der örtlichen Caritas versucht er die Folgen der Migration aus dem Tal zu mindern, soweit das mit einem Dutzend Mitarbeitern möglich ist. Einen Strukturwandel und massenweise neue Arbeitsplätze kann das kleine Team aber nicht schaffen. "Es wäre schlecht, wenn alle die Stadt verlassen. Wir versuchen die Menschen zu ermuntern, hier zu bleiben." Doch zu viele haben einfach keine Perspektive. In ganz Rumänien nutzen Hunderttausende die seit dem EU-Beitritt des Landes im Jahr 2007 bestehende Personenfreizügigkeit und kehren dem Land den Rücken. "Zurück bleiben dann oft die Kinder", sagt Kelemen.

Die Folgen der Migration

Viele der mehr als 50 Kinder, die jeden Nachmittag in das Caritas-Tageszentrum "Maria Stein" kommen, sind quasi "Euro-Waisen", also von einem oder beiden Elternteilen zurückgelassene Jungen und Mädchen. An den Wänden im Flur haben sie ihre kleinen Handabdrücke hinterlassen. In einem der Zimmer werden gemeinsam Hausaufgaben gemacht, und draußen spielen die Jungen Fußball. Unter ihnen ist auch der achtjährige Pedro Vreja. Der Zweitklässler ist einer der besten Spieler auf dem Platz. "Wenn ich mal groß bin, möchte ich Fußballer werden", sagt er. Ein Berufs­wunsch, den auch Gleichaltrige in Deutschland haben. Pedro kam zur Welt, als seine Eltern ihrem Heimat­land Rumänien den Rücken kehrten und nach Spanien mehr oder weniger ausgewandert sind. Dann kriselte es zwischen Vater und Mutter. Sie ist in Spanien geblieben, während Pedro und sein Vater wieder in Petroşani leben.

Wenn eines der Elternteile oder gar beide wegen der Arbeit migrieren, schicken sie oft Geld oder Spielsachen nach Hause. Die zurückgelassenen Kinder werden aber mit einem Com­puter oder anderen teuren Geschen­ken nicht glücklich, weiß Ramona Bul­zan. Die 34-Jährige arbeitet als Psycho­login in dem Familienzentrum und be­obachtet viele Probleme, die Migration in Familien verursacht. "Aus psycho­logischer Sicht ist Migration für Fami­lien nichts Gutes", sagt sie. "Kinder brauchen ihre Eltern, und Eltern wie­derum verstehen nicht die emotiona­len Nöte ihrer Kinder." Migration sei nicht nur für Familien eine Belastung, weiß die Psychologin. "Es ist ein gro­ßes Problem für unsere Stadt und un­ser ganzes Land", sagt Bulzan. Es gebe da diesen Automatismus, "die Men­schen haben sich daran gewöhnt, dass sie eben einfach ins Ausland gehen, wenn sie keinen Job finden."

Arbeit schafft Perspektive

Aus der Ferne wirkt es wie ein Tropfen auf den heißen Stein, was sechs Auto­stunden nördlich von Petroşani in Oradea ausprobiert wird. Aber immer­hin werden den Menschen hier Bleibeperspektiven angeboten. Die Stadt mit ihren 200.000 Einwohnern erinnert mit ihrer Architektur aus der kaiser­lich-königlichen Habsburger-Monar­chie an das Wien des 19. Jahrhunderts. Die Probleme der Bevölkerung sind aber dieselben wie in ganz Rumänien: Arbeitslosigkeit, Armut und Abwan­derung. Neben einer Suppenküche für Obdachlose und Unterkünften für Frauen in Not, betreibt die örtliche Ca­ritas als Renovabis-Projektpartner hier kleine Wirtschaftsbetriebe, um Men­schen in Lohn und Brot zu bringen. "Als Kirche versuchen wir, die rein spirituelle Dimension zu überschrei­ten und versuchen, den Menschen auch weltliche Perspektiven aufzuzei­gen", erklärt Adela Popa-Ghiţulescu, Koordinatorin der Caritas vor Ort.

Wie das konkret aussieht, zeigt ein Rundgang durch die Stadt. An einer Ecke der Strada Mihai Pavel steht der Caritas-Buchladen "Libreria Guten­berg". Die 46-jährige Lia Bodogai hat hier nach langer Arbeitslosigkeit eine Stelle als Buchhändlerin gefunden. Lange hatte sie ans Auswandern ge­dacht. Gleich gegenüber befindet sich eine Baustelle. András Szahiács bear­beitet mit schwerem Gerät die Fassa­de. Seit zwei Jahren ist der 46-Jährige bei CEO, einer Baufirma der Caritas, festangestellt. Mehrere Jahre arbeitete er fern der Heimat und ist nun glück­lich, wieder zuhause leben zu kön­nen. "Ich bin zurückgekehrt, weil ich meine Familie und mein Land ver­misst habe", sagt der Bauarbeiter. Dass er nun weniger verdient als im Ausland, sei eben der Preis.

Immer wieder Trennung

Im Ausland gearbeitet hat auch die 23-jährige Andrea Filimon, wenn auch nur wenige Monate während der letzt­jährigen Apfelernte im Rheinland. Vor kurzem erst hat sie mit ihrem Mann Cátálin Hochzeit gefeiert, schon steht ihr Abschied von ihm wieder bevor. Bräutigam Cátálin geht wieder für ei­nige Monate nach Spanien und wird in der Landwirtschaft als Saisonkraft aus­helfen. Zu lange war er nun zuhause in Oradea und konnte keine Stelle finden. Andrea dagegen schätzt sich glücklich. Sie hat einen Job in einem der beiden Second-Hand-Läden der Caritas Ora­dea. Einen kleinen Gebrauchtkleider­laden betreibt auch die griechisch-ka­tholische Gemeinde im nordrumäni­schen Turț, drei Autostunden von Ora­dea entfernt. Es ist eine ländliche Regi­on; zur ukrainischen Grenze sind es nur wenige Minuten. Die Menschen migrieren aber nicht in das östliche Nachbarland, sondern in den Westen, sagt Remus Ghiran, griechisch-katho­lischer Pfarrer von Turț.

Zu seiner Pfarrei gehört die Fami­lie Coste, deren Haus ziemlich groß wirkt und nicht recht in die ärmliche Gegend passt. Der Grund: "Mein Mann und ich sind öfter getrennt als zusammen", sagt Mutter Irina. Seit 16 Jahren arbeitet der Familienvater in Italien und kommt nur zweimal im Jahr nach Hause. "Von dem Geld, das er im Ausland verdient, haben wir das Haus erst so schön ausbauen können. Hier in Rumänien würde sein Ein­kommen für uns vier nicht reichen", sagt die 43-jährige Irina, denn zur Fa­milie gehören noch die beiden Töch­ter Ionella und Lorena. "Wir machen das für die Kinder, damit sie später eine bessere Zukunft haben." Sätze wie diesen hört Pfarrer Remus Ghiran von der griechisch-katholischen Ge­meinde oft, wenn seine Landsleute in den Westen gehen.

Die "gute Seite" der Migration

Er selbst verbrachte nach seinem Theologie-Studium einige Monate in den USA und hatte Angebote, als Priester dort zu bleiben. Er zögerte: Nach Rumänien zurückkehren oder nicht? "Ich kann meine dort gesam­melte Erfahrung hier gut nutzen und werde in meiner Heimat gebraucht", sagte sich der 36-jährige Geistliche und kam zurück. In seiner Gemeinde in Turț hat er nun große Pläne: Neue Second-Hand-Läden sollen weiteren Menschen Arbeit und Perspektive ver­schaffen und in einem Neubau soll ein Sozialzentrum für Bedürftige entste­hen. "Migration hat also auch gute Seiten; die Menschen können Erfah­rungen und neues Wissen sammeln", sagt Pfarrer Ghiran.

Diese Seite der Migration hat auch Georgiana Ciordas erlebt. Während ihres Studiums ging sie nach Lon­don, zunächst als Au-pair-Mädchen, dann jobbte sie als Kellnerin und Aushilfe in verschiedenen Geschäf­ten. Schließlich kehrte sie zurück nach Rumänien, denn der erhoffte Studienplatz in London blieb ihr ver­wehrt. Die drei Jahre in Gelegen­heitsjobs in England und die Heimkehr nach Rumänien bereut die 27-Jährige heute nicht, im Gegenteil: Nach ihrem dreijährigen Aufenthalt auf der Insel spricht sie Englisch mit original-britischem Akzent und fand gleich nach ihrer Rückkehr eine Stel­le als Englischlehrerin. "Das ist das, was ich immer machen wollte." Wür­de sie nochmal ins Ausland gehen? Sie zögert und sagt: "Es wäre nicht gut, wenn wir alle das Land ver­lassen. Erstmal bleibe ich hier."

Jährlich wandern 200.000 Rumänen aus

Wenn es um die Abwanderung aus Rumänien geht, kursieren zwei un­terschiedliche Zahlen: 2,5 bis 3 Mil­lionen sagen offizielle Statistiken und 4,5 bis 5 Millionen inoffizielle Stellen. So hoch soll die Zahl der Rumänen sein, die außerhalb ihres Landes leben. Fakt ist: Rumäniens Bevölkerung schrumpft nicht nur durch Geburtenrückgänge und Überalterung, son­dern insbesondere durch Abwande­rung. 2008, das erste Jahr nach dem Beitritt des Landes zur EU, war bisher der negative Spitzenrekord: Die Be­völkerung ging um fast zwei Prozent zurück, mehr als 300.000 Rumänen wanderten aus. Auch in den Folgejahren pendelte sich die Auswanderung bei knapp 200.000 Personen jährlich ein. Oft sind es die Jungen und gut Ausgebildeten, die zuerst abwandern. Seit 2014 hat das Land weniger als 20 Millionen Einwohner.


Im Nebel: Das Schiltal war einst wie das Ruhrgebiet Rumäniens mit vielen Zechen und Industriebetrieben. Nur noch wenige von ihnen sind noch in Betrieb / © Markus Nowak (Ren)
Im Nebel: Das Schiltal war einst wie das Ruhrgebiet Rumäniens mit vielen Zechen und Industriebetrieben. Nur noch wenige von ihnen sind noch in Betrieb / © Markus Nowak ( Ren )

Kinder bleiben oft zurück: Die Caritas in Petrosani betreibt mit dem Haus Maria Stein ein Kinderzentrum für Euro-Waisen und anderen arme Kinder / © Markus Nowak (Ren)
Kinder bleiben oft zurück: Die Caritas in Petrosani betreibt mit dem Haus Maria Stein ein Kinderzentrum für Euro-Waisen und anderen arme Kinder / © Markus Nowak ( Ren )

Jon Vreja wohnt mit seinem achtjährigen Sohn Pedro allein in der alten Bergarbeiterstadt Petrosani und arbeitet als Gelegenheitsarbeiter / © Markus Nowak (Ren)
Jon Vreja wohnt mit seinem achtjährigen Sohn Pedro allein in der alten Bergarbeiterstadt Petrosani und arbeitet als Gelegenheitsarbeiter / © Markus Nowak ( Ren )

Ramona Bulzan ist Psychologin bei Caritas in Petrosani / © Markus Nowak (Ren)
Ramona Bulzan ist Psychologin bei Caritas in Petrosani / © Markus Nowak ( Ren )

Adela Popa-Ghitulescu, Koordinatorin der Caritas in Oradea / © Markus Nowak (Ren)
Adela Popa-Ghitulescu, Koordinatorin der Caritas in Oradea / © Markus Nowak ( Ren )

Lia, 46 Jahre, hat Arbeit in einer Caritas-Buchhandlung gefunden / © Markus Nowak (Ren)
Lia, 46 Jahre, hat Arbeit in einer Caritas-Buchhandlung gefunden / © Markus Nowak ( Ren )
Quelle:
Ren