Millionen syrische Kinder leiden unter psychischen Störungen

Das Ende der Kindheit

Sprachstörungen, Bettnässen, Alkoholmissbrauch: Nach sechs Jahren Krieg entwickeln immer mehr Kinder in Syrien psychische Störungen. Die Hilfsorganisation Save the Children hat eine große Studie dazu erstellt. Für Hilfe ist es noch nicht zu spät.

Autor/in:
Paula Konersmann
Syrische Kinder im Libanon / © Ann Beatrice Clasmann (dpa)
Syrische Kinder im Libanon / © Ann Beatrice Clasmann ( dpa )

Jemand schreit. Eine Tür fällt zu. Am Himmel fliegt ein Flugzeug. Drei alltägliche Situationen - doch bei immer mehr Kindern in Syrien lösen sie extreme Angst aus. Zum sechsten Jahrestag des Syrienkriegs veröffentlicht die Hilfsorganisation Save the Children jetzt die bislang umfassendste Studie zur psychischen Gesundheit der Kinder in dem Bürgerkriegsland. Jedes vierte von ihnen könnte demnach eine ernsthafte psychische Störung entwickeln. 89 Prozent der befragten Erwachsenen beobachten, dass viele Kinder ständig unter Angst litten.

Geflüchtete Kinder zeigten "ein unvorstellbar hohes Maß an Trauma und Verzweiflung", heißt es in dem Bericht "Unsichtbare Wunden". Die Befragung von 450 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die Syrien verblieben sind, unterstreiche nun, dass das Land "an einem kritischen Punkt" stehe. Nach sechs Jahren Krieg sei das Risiko sehr groß, dass eine Generation "an ihren Traumata und dem extremem Stress zerbricht", mahnen die Helfer. Wenn sie allerdings rasch passende Hilfe erhielten, könnten sich die syrischen Kinder möglicherweise wieder erholen.

Dauernde Bombardierung Hauptgrund für Stress

Vor dem vergangenen Weihnachtsfest dominierte die nordsyrische Stadt Aleppo die Schlagzeilen. Derzeit befinden sich 13 Gebiete im Land in einem ähnlichen Belagerungszustand. Dort ist die Lage besonders dramatisch: "Die Kinder hier in Madaja wünschen sich, sie wären tot und würden in den Himmel kommen, um endlich nicht mehr zu frieren und essen und spielen zu können", berichtet Entwicklungshelfer Bashir.

Helfer und Lebensmittelkonvois können die Menschen in diesen Regionen kaum erreichen. Luftangriffe und Frontkämpfe sind dort laut Save the Children an der Tagesordnung. Die kontinuierliche Bombardierung nannten 84 Prozent der für den Report befragten Erwachsenen und fast alle Kinder als Hauptursache für psychischen Stress.

Immer mehr Kinder reagieren darauf mit Stresssymptomen wie Bettnässen, Albträumen oder Sprachstörungen, heißt es weiter. Jugendliche verletzten sich häufig selbst oder griffen zu Alkohol oder Drogen, um sogenannten toxischen Stress abzubauen. Er gilt als die gefährlichste Form einer Stressreaktion und entsteht, wenn dauerhaft eine große Menge an Stresshormonen ausgeschüttet wird. Bei ausbleibender Behandlung könne die Gesundheit der betroffenen Kinder und Jugendlichen zeitlebens angeschlagen bleiben, warnen Mediziner: In der frühen Kindheit kann zu viel Stress die Nervenverbindungen in Bereichen des Gehirns reduzieren, die für das Lernen und die Vernunft zuständig sind.

Betreuer: Zerstörung einer ganzen Generation

Mindestens drei Millionen syrische Kinder, die unter sechs Jahre alt sind, haben nichts anders als Krieg kennen gelernt. Zwei von drei Kindern haben Schätzungen zufolge Freunde oder Familienangehörige im Krieg verloren. Neben ihrer persönlichen steht laut Save the Children auch die Zukunft des Landes auf dem Spiel. Fast ein Drittel der Kinder im Schulalter geht laut dem UN-Büro für humanitäre Hilfe (OCHA) nicht mehr zur Schule - darunter leidet auch die "kriegserschütterte Wirtschaft", so der Bericht. 4.000 Schulen seien seit Kriegsbeginn angegriffen worden; heute könne jede dritte Schule nicht mehr genutzt werden.

In der Folge nimmt Kinderarbeit zu, Jungen werden schon im frühen Alter von bewaffneten Gruppen rekrutiert, Mädchen immer jünger verheiratet. "In zehn Jahren werden wir erkennen, dass eine ganze Generation zerstört wurde", sagt Jugendbetreuer Mohammad. "Aber wir brauchen eine Generation, die Syrien wieder aufbauen kann."

Und dafür ist es noch nicht zu spät, so Save the Children. Viele Kinder wollten später Arzt oder Lehrer werden. "Aus dem Herzenswunsch der Kinder, zur Schule zurückzukehren und einen Abschluss machen zu können, lässt sich schließen, dass sie noch Hoffnungen für die Zukunft haben." Dafür sei jedoch ein sofortiger Waffenstillstand erforderlich. Zudem müssten die Geberländer die Folgen des Kriegs für die psychische Gesundheit von Kindern anerkennen und entsprechende Programme ermöglichen. Der Bericht zitiert die 11-jährige Zainab: "Was ist, wenn es immer so weitergeht, bis ich alt bin?", fragt sie. "Das ist nicht fair."


Quelle:
dpa