Ministerin zur Integration behinderter Kinder an Regelschulen

"Eltern sollen ab 2013 wählen können"

Für behinderte Kinder in Nordrhein-Westfalen soll es nach dem Willen der Landesregierung ab dem Schuljahr 2013/2014 das Recht geben, eine Regelschule zu besuchen. Das kündigte NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann am Montag in Düsseldorf an. Im Interview erläutert Löhrmann den Fahrplan.

 (DR)

KNA: Frau Ministerin Löhrmann, die Landesregierung will in diesem Jahr den Unterricht behinderter Kinder an Regelschulen voranbringen. Als Schulministerin müssen Sie für die Umsetzung sorgen. Wann ist ein Gesetzentwurf zu erwarten?

Löhrmann: Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Aber um einen konkreten Vorschlag vorzulegen, brauche ich zunächst einen Beschluss des Parlaments, der in einigen wichtigen Fragen Klarheit schafft.



KNA: Wann können denn Eltern behinderter Kinder damit rechnen, eine Schule für ihr Kind zu wählen?

Löhrmann: Mein Ziel ist, dass es ab dem Schuljahr 2013/2014 für behinderte Kinder einen gesetzlichen Rechtsanspruch zum Besuch einer allgemeinbildenden Schule gibt. Dabei gehen wir zweigleisig vor. Bereits mit einem Erlass vom Dezember 2010 haben wir darauf hingewirkt, dass Eltern für ihr Kind eine allgemeine Schule wählen können, wo immer dies möglich ist. Im Schuljahr 2011/2012 haben wir eigens 390 zusätzliche Lehrerstellen für die allgemeinen Schulen geschaffen, um die Zuweisung von Kindern zur Förderschule gegen den Elternwillen zu vermeiden. Dieser Erlass kehrt die Beweislast um.



Bisher galt, dass Schulaufsichtsbehörden und Schulträger Gemeinsamen Unterricht ermöglichen können. Jetzt muss in jedem Einzelfall begründet werden, wenn ein Platz im Gemeinsamen Unterricht nicht möglich sein soll. Insgesamt arbeiten bereits rund 900 Lehrkräfte zusätzlich - also über den Grundbedarf an sonderpädagogischer Förderung hinaus - in allgemeinen Schulen.



KNA: Im Dezember 2010 hat der Landtag doch schon ohne Gegenstimme und nur bei Enthaltung der FDP beschlossen, den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern einzuführen und die UN-Konvention zur Inklusion umzusetzen...

Löhrmann: Ja, das stimmt, und wir folgen ihm auch schon. Aber es gilt insbesondere zu folgenden Fragen eine Grundsatzentscheidung zu

treffen: Sollen alle Kinder mit Behinderung eine Regelschule besuchen? Oder soll es für bestimmte Förderschwerpunkte weiterhin eigene Schulen geben? Unsere Gutachter schlagen vor, dass es bei den Förderschwerpunkten "Lernen/emotionale und soziale Entwicklung/Sprache" keine Förderschulen mehr geben soll. Für die Förderschwerpunkte "Geistige Entwicklung", "Körperliche und motorische Entwicklung" sowie für Kinder und Jugendliche mit Sinnesschädigungen sollen Eltern bei Bedarf aber auch Förderschulen wählen können.



KNA: Die CDU hat kürzlich ein Papier vorgelegt, in dem sie eine schrittweise Einführung der Inklusion befürwortet, gleichzeitig aber an Förderschulen für bestimmte Kinder festhält. Sehen Sie darin eine Grundlage für eine gemeinsame Politik?

Löhrmann: Bei der grundsätzlichen Richtung gibt es erfreulicherweise viel Übereinstimmung. Aber die CDU lässt offen, ob es für alle Förderschwerpunkte oder nur für einzelne Bereiche noch spezielle Schulen geben soll. Das ist mit Blick auf die Ressourcen eine entscheidende Frage. Und darüber brauchen wir eine Einigung.



KNA: Wenn Kinder mit Behinderungen in allgemeinen Schulen unterrichtet werden sollen, müssen Gebäude umgebaut werden und Lehrer entsprechend aus- und weitergebildet werden. Ist das Land auf diesen Umbau des Schulwesens vorbereitet?

Löhrmann: Natürlich stehen wir vor einer enormen Herausforderung und großen Veränderungen für unser Schulsystem. Aber die Zahlen zeigen, dass es sich um eine zu bewältigende Aufgabe handelt. In Nordrhein-Westfalen haben rund 130.000 Kinder sonderpädagogischen Förderbedarf - ein Teil von ihnen lernt bereits in allgemeinen Schulen. Das ist im Verhältnis zu den 2,8 Millionen Schülerinnen und Schülern eine überschaubare Anzahl von Kindern.



KNA: Dennoch sind viele praktische Fragen zu lösen.

Löhrmann: Sicher. Aber sie sind lösbar. Nehmen wir das Beispiel Umbauten. Nur eine relativ kleine Gruppe benötigt eine klassische Barrierefreiheit - etwa bei körperlichen Behinderungen oder Sinnesschädigungen. Diese Gruppe umfasst aber weniger als 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Deshalb sind so viele räumliche Veränderungen gar nicht nötig.



KNA: Welche finanziellen Folgen hat der Umbau der Schullandschaft?

Löhrmann: Klar ist, dass das Land vor allem in Personal und Fortbildung investieren muss und wird. In jedem Fall werden Mittel, die durch zurückgehende Schülerzahlen frei werden, in das inklusive Schulsystem investiert. Die genauen Zahlen hängen von den politischen Grundentscheidungen des Parlaments ab.



KNA: Bei welcher Partei sehen Sie die größten Chancen, in Sachen Inklusion weiterzukommen?

Löhrmann: Die Regierungsparteien SPD und Grüne suchen hier zunächst einmal die Verständigung mit der CDU. Auch der Landtagsbeschluss vom Dezember 2010 ging ja auf einen gemeinsamen Antrag zurück. Gerade vor dem Hintergrund des christlichen Menschenbildes, das die CDU vertritt, rufe ich zu einer gemeinsamen Politik in diesem Bereich auf. Das Thema eignet sich nicht für parteipolitische Auseinandersetzungen. Deshalb werbe ich um Unterstützung im gesamten Parlament.



KNA: Wie wollen Sie die gesellschaftliche Akzeptanz für das gemeinsame Lernen erreichen?

Löhrmann: Hier sehe ich nicht nur die Parteien, sondern auch zivilgesellschaftliche Kräfte, die Kirchen und besonders die Kommunen in der Verantwortung. Sie gestalten ja die Schulentwicklung vor Ort. Um sie dabei zu unterstützen, haben wir bereits in den 53 Schulämtern je eine zusätzliche Stelle für Koordinatoren geschaffen, die den Ausbau des Gemeinsamen Unterrichts in den Städten und Gemeinden begleiten und dabei helfen sollen, einen örtlichen Inklusionsplan zu erarbeiten.



KNA: Viele Eltern befürchten, dass der gemeinsame Unterricht nicht ohne Störung abläuft.

Löhrmann: Solche Ängste müssen wir ernst nehmen. Aber wir fangen beim gemeinsamen Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen ja nicht bei Null an und haben schon gute Erfahrungen gesammelt. Im Schuljahr 2010/2011 wurden in NRW bereits rund 22.800 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinen Schulen unterrichtet. Bei den Grundschulen liegt die Integrationsquote bei 25 Prozent und in der Sekundarstufe I bei 11 Prozent. Auch Gymnasien fangen an, sich für Kinder mit Lernbehinderungen zu öffnen. Die Kinder dort helfen und unterstützen sich gegenseitig. Es ist bemerkenswert, welcher Stolz auf die eigene pädagogische Leistung dort entstanden ist. All diese Schulen sind für mich Paten und Lotsen für den inklusiven Unterricht. Und hier können sich Eltern über gelingendes Lernen zum Nutzen aller Kinder informieren.



Das Interview führte Andreas Otto.



Hintergrund

Für behinderte Kinder in Nordrhein-Westfalen soll es nach dem Willen der Landesregierung ab dem Schuljahr 2013/2014 das Recht geben, eine Regelschule zu besuchen. Eine entsprechende gesetzliche Regelung strebt NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann

(Grüne) an.



Sofortige Schritte für einen gemeinsamen Unterricht behinderter und nicht behinderter Schüler hatte im Vorfeld das NRW-Bündnis "Eine Schule für alle" gefordert. Drei Jahre nach Verabschiedung der UN-Behindertentrechtskonvention warteten Betroffene immer noch auf Eckpunkte und Gesetzentwürfe, kritisierte das Bündnis im Januar. Nach wir vor fänden "Zwangszuweisungen" an Förderschulen statt. Notwendig seien jetzt Reformen, die die Inklusion in Nordrhein-Westfalen voranbringe. An Bündnis "Eine Schule für alle" beteiligen sich rund 60 Organisationen und Privatpersonen, darunter der Deutsche Kinderschutzbund LV NRW und der Sozialverband Nordrhein-Westfalen (SoVD NRW).



Bislang bleibe der individuelle Rechtsanspruch von Behinderten auf Unterrichtung in Regelschulen wirkungslos, sagte Bündnis-Sprecher Wolfgang Blaschke. Er könne etwa mit einem Kostenvorbehalt ausgehebelt werden. Auch könnten Schulämter einen Ausschluss von der Regelschule mit der Begründung durchsetzen, Inklusion widerspreche dem Kindeswohl. "Selbstbestimmung muss endlich auch für Menschen mit Behinderung gelten", forderte Blaschke. Behinderte hätten ein Recht auf gemeinsamen Unterricht in Regelschulen.



Die seit März 2009 für Deutschland verbindliche UN-Behindertenrechtskonvention räumt behinderten Kindern das Recht ein, allgemeine Schulen zu besuchen.



Der Verein katholische deutscher Lehrerinnen (VkdL) warnt vor "Schnellschüssen" beim Aufbau eines gemeinsamen Unterrichts für behinderte und nichtbehinderte Kinder in Nordrhein-Westfalen. Weder Schulen noch Lehrkräfte seien auf die großen Umstellungen vorbereitet, erklärte der Verein in Essen. Der schwierige Prozess der im Grundsatz richtigen Inklusion benötige viel Sachverstand und Zeit.