Misereor-Chef Pirmin Spiegel im Interview

"Globale Gerechtigkeit ist Herausforderung"

Auf der Vollversammlung der deutschen Bischöfe 1958 in Fulda hielt der damalige Kölner Kardinal Frings eine Rede mit dem Titel "Abenteuer im Heiligen Geist". Daraus entstand Misereor. Pirmin Spiegel spricht über seinen persönlichen "Misereor-Moment".

Autor/in:
Joachim Heinz
Pirmin Spiegel / © Harald Oppitz (KNA)
Pirmin Spiegel / © Harald Oppitz ( KNA )

KNA: Herr Spiegel, 60 Jahre Misereor - was ist Ihr ganz persönlicher "Misereor-Moment"?

Spiegel: Das war vor knapp einem Jahr in Paraguay. Dort sagte der Bischof aus Coronel Oviedo, Don Juan, beim Anblick eines bis an den Horizont reichenden Sojafeldes zu mir: "Die Entwicklung unserer Gesellschaft führt zu Entmenschlichung, unser Verständnis von Fortschritt bedeutet Verarmung." Mit Sorge schaue er auf die vielen Opfer eines "Krieges um Land und Territorien". Er erzählte vom Vordringen des Agrobusiness und dem Streben nach möglichst schnellem Gewinn unter der Maske des Fortschritts - der in seinem Land nur wenigen zugutekomme.

KNA: Klingt sehr pessimistisch - warum ist ausgerechnet das ihr "Misereor-Moment"?

Spiegel: Die klaren Worte des Bischofs sind mir bis heute im Gedächtnis geblieben, denn sie entsprechen der DNA der Arbeit Misereors. Er sprach nämlich auch von Zeichen der Hoffnung: Zum Beispiel von Indigenen, die sich zusammenschließen, um ihre Rechte einzufordern. Und von Saatgutbanken, die Erfahrung und altes, landwirtschaftliches Wissen hüten und eine große Saatgut-Vielfalt sichern.

KNA: Ein "Misereor-Moment" also...

Spiegel: ...ist diese Begegnung für mich wegen des Herzblutes, mit dem unsere Partnerorganisationen und der Bischof «Nein» sagen zu einer Entwicklung, die die Verletzlichsten zur Migration in Städte zwingt, wo sie meist Perspektivlosigkeit erwartet. Die sich für die Sicherung von Landtiteln und eine Weiterentwicklung traditioneller, dem Klima angepasster Anbaumethoden einsetzen. Die wie wir überzeugt davon sind, dass nach dem Verlust des eigenen Landes nicht auch noch der Verlust der Würde stehen darf. Diese Formen der Solidarität, Teilhabe und Nähe lassen die Verletzlichsten an ihre Potenziale glauben. "Misereor-Moment", weil es nicht nur darum geht, das Leiden der Menschen sichtbar zu machen, damit es wahrgenommen werden kann, sondern auch die Augen aller für die Zusammenhänge in der Einen Welt zu öffnen.

KNA: Was hat Misereor in den vergangenen sechs Jahrzehnten geschafft - und wo muss Misereor "besser" werden?

Spiegel: Zusammen mit anderen Organisationen und Partnern weltweit ist es uns - wie ich finde - deutlich gelungen, einen Bewusstseinswandel anzustoßen, dass Nord und Süd nicht mehr getrennt voneinander betrachtet werden können. Dass wirtschaftliche, ökologische und soziale Fragen, dass unser Lebensmodell und die Ursachen von Armut und Ausgrenzung in einer globalisierten Welt immer miteinander zusammenhängen. Deutschland hat das Potenzial, zur Lösung globaler Krisen wie Klimawandel und Armut beizutragen, ist aber in dieser Hinsicht selbst ein «Entwicklungsland»: Gerade was die Verlagerung der Kosten für unsere Lebensweise auf andere Nationen und Menschen betrifft.

KNA: Können Sie Beispiele nennen?

Spiegel: Das gilt für den Abbau von Rohstoffen für unsere Autos oder Smartphones unter menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen genauso wie für den Klimawandel, den wir alle mitverantworten, unter dem derzeit aber vor allem die ärmere Bevölkerung im globalen Süden leidet.

KNA: Was folgt daraus für Misereor?

Spiegel: Stärker als in früheren Jahrzehnten steht für Misereor ein Entwicklungsansatz im Mittelpunkt, der an den Traditionen und Potenzialen der Begünstigten ansetzt. Wir unterstützen sie dabei, auf eigene Kräfte und Ideen zu vertrauen, und - wenn möglich - schnell von externer Förderung unabhängig zu werden. Das heißt aber auch, dass wir uns deutlich stärker als Bündnispartner sehen müssen. Hier sind wir selbst immer Lernende.

KNA: Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft von Entwicklungspolitik?

Spiegel: Entwicklungszusammenarbeit kann nur dann wirksam sein - damit schlage ich den Bogen zu den ersten Fragen - wenn sie uns selbst einschließt und wenn Politik, Wirtschaft und Gesellschaft klar und übergreifend nach dem Grundsatz handeln: Nur gemeinsam mit den Menschen und unter Berücksichtigung ihrer Ideen, ihres Wissens und ihrer Potenziale können wir die Lebensverhältnisse in Ländern mit hoher Armutsquote spürbar verbessern.

KNA: Woran orientieren Sie sich dabei?

Spiegel: Die von den Vereinten Nationen formulierten 17 Nachhaltigkeitsziele sind dafür eine gute Richtschnur: Sie müssen konkret und durch deutlich stärkere Investitionen umgesetzt werden - mit besonderer Aufmerksamkeit für unsere Schöpfung und die Ärmsten, wie es Papst Franziskus in seiner Enzyklika "Laudato Si" treffend formuliert. Dazu gehört auch, dass wir eine menschenfeindliche Rhetorik in unserer eigenen Gesellschaft deutlich ablehnen müssen. Globale Gerechtigkeit ist eine große Herausforderung, doch sie ist möglich, wenn sie in jeden Land angestrebt wird.

KNA: Wohin geht die Reise für Misereor?

Spiegel: Für Misereor wünsche ich mir, dass wir es schaffen, auch das Bewusstsein von Konsumentinnen und Konsumenten noch deutlicher dafür zu schärfen, dass ihre eigenen materiellen Ansprüche auf ein für alle Menschen erträgliches Maß angepasst werden müssen. Persönliche Umkehr und die Umgestaltung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind letztlich notwendig und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.


Quelle:
KNA