Misereor und Slow Food wollen "Reformation" der Ernährung

Thesen für Kopf und Bauch

Über Ernährung wird viel gesprochen. Was ist gesund, was schadet den Tieren, was ist nachhaltig? Auch das katholische Hilfswerk Misereor und Slow Food schalten sich in die Ernährungsdiskussion ein – mit 95 Thesen.

 (DR)

"Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht 'Tut Buße' usw. (Matth. 4,17), hat er gewollt, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll." So lautet die erste These Martin Luthers. Vor 500 Jahren veröffentlichte der katholische Mönch diese und 94 weitere Thesen und stieß damit die Reformation an. Auch eine neue Reformationsbewegung hat jetzt 95 Thesen formuliert.

Diese kommt ebenfalls aus der Mitte der katholischen Kirche: Das bischöfliche Hilfswerk Misereor ist neben Slow Food Deutschland federführend an der Aktion beteiligt. Schon die erste These zeigt aber, dass der Tenor etwas anders ausfällt: "Die Erde ist unsere große Ernährerin und in denkbar schlechtem Zustand."

Von Luther zur Umwelt-Enzyklika

Ob Luther seine 95 Thesen jemals an die Schlosskirche von Wittenberg anschlug, ist historisch nicht gesichert. Heute ist das knappe Hundert seiner Ideen dort als Bronzeguss nachzulesen. Um Ernährung und das ökologische Gleichgewicht hat sich der Reformator vor einem halben Jahrtausend jedenfalls keine Gedanken gemacht. Der Mönch richtete sich vor allem gegen den damaligen Papst.

Die neuen 95 Thesen von Misereor und Slow Food Deutschland sind davon weit entfernt: Sie zitieren den aktuellen Amtsträger Franziskus sogar. Seine Umwelt-Enzyklika "Laudato si" wirbt für die Sorge um das "gemeinsame Haus" aller Menschen - die Erde. Im Jahr des Reformationsgedenkens nutzen Misereor und Slow Food die Methoden des streitbaren Theologen Luther, um ebenfalls kritische Gedanken unter das Volk zu bringen; dabei sollen auch zehn öffentliche Diskussionen mit Experten helfen. Ihre Standpunkte wollen sie, historische Überlieferung hin oder her, ebenfalls an einer Türe anschlagen, nämlich jener der Zivilgesellschaft. Die 95 «Thesen für Kopf und Bauch» sollen Verbraucher zur Diskussion über Alternativen des Ernährungssystems anregen.

"Unser Fischhunger ist nicht enkeltauglich."

Schwerpunkt ist der Umgang des Menschen mit Wasser, Boden, Pflanzen und Tieren sowie sein Beitrag zum Klimawandel. Statt mit "kirchlichen Bußstrafen" wie weiland Luther beschäftigt sich die zwölfte These jetzt etwa mit der Überfischung der Weltmeere: "Unser Fischhunger ist nicht enkeltauglich." Äußert sich Luther in seiner These Nummer 18 zum "Liebeszuwachs von Seelen im Fegefeuer", stellen die Neu-Reformatoren fest: "Mehl wächst nicht im Supermarkt!" Und während sich der Reformator in seiner dreiundvierzigsten These Almosen über Ablasserwerb stellt, erklären Misereor und Slow Food darin Sortenvielfalt zum "Jackpot der Natur".

Das Spiel mit den Thesen hat allerdings einen ernsten Hintergrund: "Die Menschen essen immer weniger Gemüse, Obst und Getreide", sagt Misereor-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel. Deshalb litten auch Arme vermehrt unter Diabetes, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. "Diese Erkrankungen können nur dann nachhaltig zurückgehen, wenn sich unser aller Lebensstil verbessert", so Spiegel. Politik, Lebensmittelindustrie und Konsumenten müssten "die richtigen Voraussetzungen" schaffen. Als Lösungsansätze finden sich beispielsweise Nachhaltigkeit und Verzicht.

"Schonenden Umgang mit Ressourcen"

Ursula Hudson, Vorsitzende von Slow Food Deutschland wünscht sich einen "schonenden Umgang mit Ressourcen" auch beim Thema Ernährung. Dafür brauche es zunächst einen "ungeschönten Blick auf den Zustand unseres Planeten". Bei der Lektüre der 95 Thesen gestaltet sich dieser ziemlich düster. Dieser Eindruck verfestigt sich bei der Lektüre der reichhaltig zur Verfügung gestellten Quellennachweise. Es scheint, als sei 500 Jahre nach der Reformation jene der Ernährung nicht nur an der Zeit, sondern überfällig.

 

Quelle:
KNA