Missbrauchsbeauftragter Rörig zieht Bilanz

"Die Arbeit ist noch nicht getan"

Gut drei Wochen vor der Bundestagswahl mahnt der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig im domradio.de-Interview eine Fortsetzung der Aufklärungsarbeit an.

 (DR)

domradio.de: Die Stelle des Missbrauchsbeauftragten wird es möglicherweise nur noch bis Ende dieses Jahres geben. Ist Ihre Arbeit denn getan?

Rörig: Nein, die Arbeit ist natürlich nicht getan, weil Missbrauch tatsächlich ja noch aktuell und überall stattfindet. Die Arbeit am Thema ist nicht abgeschlossen, aber es ist ein Anfang getan und ich habe meinen Bilanzbericht, der auch ausdrücklich kein Abschlussbericht ist, den Titel gegeben ‚Keine Entwarnung, kein Schlussstrich‘.

domradio.de: Sie betreiben die kostenlose Hotline für Missbrauchsopfer. Wie gefragt ist denn die Telefonnummer noch?

Rörig: Insgesamt haben wir dort 16.500 Beratungsgespräche geführt, Fachkräfte dieser telefonischen Anlaufstelle mit Betroffenen. Im Moment haben wir am Tag zwischen zehn und fünfzehn Anrufe.

domradio.de: Ihr Forderungskatalog an die neue Bundesregierung, je nachdem wer gewählt wird, die ist lang. Wir können das jetzt nicht alles abarbeiten aber Sie fordern zum Beispiel eine unabhängige Kommission zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen. Welche Aufgabe soll die wahrnehmen?

Rörig: Vielleicht kann ich ganz allgemein sagen, einzelne Institutionen wie beispielsweise auch die katholische Kirche sind engagiert in der Aufarbeitung. Da ist ja auch gerade in dieser Woche eine wichtige Entscheidung vom Ständigen Rat getroffen worden. Aber wir haben in Deutschland ja keine weitergehende systematische und unabhängige Aufarbeitung und Aufarbeitung ist nach meiner Überzeugung und der von Fachleuten eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das hat auch der Runde Tisch so gesagt und deswegen ist es erforderlich, dass eine Kommission eingerichtet wird, die die Aufgabe bekommt die verschiedenen Tatorte auch den familiären Bereich insbesondere ins Auge zu fassen und dann auch Vorschläge zu unterbreiten, wie die Prävention insgesamt verbessert werden kann. Wir sagen die Bevölkerung muss mehr wissen über Missbrauch und wir müssen die Ahnungslosigkeit überwinden und deswegen muss der Bevölkerung das Ausmaß und die Folgen von Missbrauch  - wir haben immer noch 12.500 angezeigte Fälle pro Jahr – unbedingt bekannt gemacht werden.

domradio.de: Sie haben vor einem Jahr angekündigt, dass sie herausfinden wollen, wie groß der Wille der verantwortlichen Akteure tatsächlich ist mehr für den Schutz von Kindern zu tun. Wen meinten Sie damals?

Rörig: Da hatte ich damals im Blick einmal die Kirchen, aber natürlich auch die Wohlfahrtsverbände, den organisierten Sport und alle anderen Jugendverbände. Also all die, denen tagtäglich Kinder anvertraut werden, und ich habe da eigentlich sehr positive Erfahrungen gemacht. Es gibt ein großes Engagement im Bereich der katholischen Kirche die Prävention zu verbessern. Ein riesiges Fortbildungs- und Weiterbildungsvorhaben wird da im Moment in den einzelnen Diözesen umgesetzt. Das finde ich sehr erfreulich und das beginnt jetzt in der evangelischen Kirche auch und auch im Bereich des DOSB, also der Sportvereine haben sich da viele auf den Weg gemacht den Schutz zu verbessern. Nur nach unserem Monitoring, was wir durchgeführt haben, mussten wir feststellen, dass zum Teil nur einzelne Maßnahmen zum Schutz der Kinder angewendet werden aber die von uns geforderten umfassenden Schutzkonzepte werden noch zu selten angewendet. Da liegt auch noch viel Arbeit vor uns.

domradio.de: In dieser Woche kam ja auch die Nachricht, dass die katholische Kirche das Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle neu ausgeschrieben hat. Anfang des Jahres war die Zusammenarbeit mit Professor Pfeifer gescheitert. Schauen wir mal in die Opposition. Gegenüber der Partei Die Grünen gibt es aktuell ja den sehr lauten Vorwurf Mitglieder hätten in den 80er Jahren sexuelle Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen befürwortet. Die Grünen sind jetzt erst aktiv gewesen und lassen Ihre Geschichte wissenschaftlich aufarbeiten. Kommt dieser Schritt aus ihrer Sicht nicht 20 Jahre zu spät?

Rörig: Man hätte schon sehr viel früher über das, was in den 70er und 80er Jahren über Pädophilie geschrieben wurde und die Auseinandersetzung zu diesem Thema zu einem gesellschaftspolitischen Diskurs führen müssen. Jetzt ist es okay, dass der Bundesvorstand den Professor Walter, dem Parteienforscher in Göttingen, beauftragt hat. Wichtig ist, dass jetzt auch eine klare Erklärung abgegeben wurde, dass Betroffene angehört werden im Rahmen dieses Forschungsprojektes. Es kann gut sein, dass wir in den nächsten Jahren auch noch in anderen Kontexten uns mit der Aufarbeitung befassen müssen. Deswegen fordere ich ja auch eine unabhängige Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in Deutschland.

Das Interview führte Tobias Fricke.


Quelle:
DR