Nichts deutete für Lilian darauf hin, dass ihre Kindheit an diesem Tag abrupt enden sollte. Die Frauen ihres Dorfes bereiteten Essen für ein Fest vor. Freudige Gesänge klangen vom Dorfplatz herüber. Zu spät begriff die Elfjährige, dass sie im Mittelpunkt der Feier stand.
An diesem Tag wollten ihre Eltern sie einem fremden Mann übergeben. Dafür erhielt ihre Familie drei Kühe, zehn Ziegen und etwas Geld. Von nun an sollte der fast 40-Jährige Lilians "Ehemann" sein. Er nahm sie mit in sein Dorf und brachte sie im Haus seiner Mutter unter. Nach vier Wochen sollte das Mädchen zu ihm ziehen. Doch Lilian wollte nicht. Bei der ersten Gelegenheit ergriff sie die Flucht.
Das Volk der Samburu lebt im Norden Kenias. Es entspricht der Tradition dieser halb nomadischen Viehhirten, junge Mädchen im Alter von zehn bis zwölf Jahren mit erwachsenen Männern zu verheiraten. Dafür zahlen die Männer einen Brautpreis an die Familie des Mädchens, meist in Form von Tieren und Geld.
"Die Mädchen haben keine Mitsprache. Sie werden behandelt wie eine Handelsware", schimpft Schwester Therese Nduku und zieht missbilligend die Augenbrauen zusammen. Die quirlige Ordensfrau leitet das Schutzzentrum für Mädchen in der kleinen Stadt Suguta Marmar in der Region Samburu. Es grenzt an den Samburu-Nationalpark.
Offiziell ist die Ehe mit Minderjährigen in Kenia verboten. Viele Samburu kümmert das nicht. Die Tradition ist stärker als das Gesetz. Doch immer mehr Mädchen widersetzen sich. Sie haben in der Schule oder von anderen Mädchen von dem Schutzzentrum der Ordensschwestern erfahren.
Auch Lilian hatte davon gehört. Auf der Flucht vor ihrem "Ehemann" lief sie einen ganzen Tag über die felsige Hochebene durch Gras- und Dornbüsche. Ein gefährlicher Weg: giftige Schlangen, Geparden, Hyänen und Elefanten leben in der Region. Doch Lilian hatte Glück. Abends erreichte sie endlich das Schutzhaus – völlig erschöpft, aber erleichtert.
Neue Hoffnung
62 vor Genitalverstümmelung oder Zwangsehe geflohene Mädchen haben bei Schwester Therese und ihren Mitschwestern Zuflucht gefunden. Die Ordensfrauen versorgen die Mädchen, organisieren Schulunterricht und begleiten die Mädchen auch therapeutisch. "Wenn die Mädchen zu uns kommen, sind sie oft traumatisiert, ohne Hoffnung und mit gebrochenem Herzen", erzählt Schwester Therese, die eine ausgebildete Lehrerin und Therapeutin ist.
Gerade hat sie erfolgreich einen Abschluss in "Kinderrechte, Gleichstellung und Schutz" an der Catholic University of Eastern Africa gemacht. "Mit der Zeit, wenn wir mit ihnen zusammenleben, sie betreuen und beraten, fangen sie an, sich zu entwickeln und werden zu selbstbewussten Mädchen", berichtet die 48-Jährige vom Orden der Schwestern der Unbefleckten Maria von Nyeri.
Das ist jetzt ein Jahr her. Lilian pumpt mit einigen anderen Mädchen Wasser aus einem Brunnen in Plastikeimer, um damit den Gemüsegarten des Zentrums zu wässern. Das Wasser spritzt. Die Mädchen lachen. Lilian lacht mit ihnen. Doch ihre Freude ist getrübt.
Mit ihrer Familie konnte sie sich zwar versöhnen. Lilians Bruder Lthausen versprach ihr, nach dem Tod des Vaters den Brautpreis an den "Ehemann" zurückzuzahlen. Doch die Tiere sind aufgrund der extremen Trockenheit im Norden Kenias verendet.
Lilians Familie ist arm und leidet Hunger. Trotzdem unterstützt der Bruder Lilian. Er wünscht sich, dass seine Schwester einen Schulabschluss macht. Sie soll es einmal besser haben als er.
Sichere Unterbringung
Doch Lilians "Ehemann" gibt nicht nach. Für ihn ist Lilian sein Eigentum. Und das will er zurückhaben. Zweimal ließ er Lilian entführen. Schwester Therese, Lilians Mutter, ihr Bruder und die Polizei suchten nach ihr. Mit viel Glück konnte sie beide Male entkommen. Jetzt möchte Schwester Therese Lilian in einem Schulinternat an einem sicheren Ort in einem anderen Landesteil unterbringen. Lilians größter Wunsch ist es, zur Schule zugehen, ohne permanent Angst zu haben.
Mehr Glück als Lilian hatte Sarah. Sie sollte mit elf Jahren verheiratet werden. Der vorgesehene "Ehemann" war 50 Jahre alt. Als die Vorbereitungen für ihre Heirat getroffen wurden, war es Sarahs Bruder, der eingriff. Er brachte sie zur Polizei. Die Familie wurde zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Heute lebt Sarah im Schutzzentrum. Mit ihren Eltern ist sie versöhnt. Ihr Vater konnte den Brautpreis zurückzahlen und unterstützt, dass sie zur Schule geht.
Eine Schule besuchen ist für die Mädchen oft ein großer Herzenswunsch. Viele gehören zu den Besten ihres Jahrgangs. "Diese Mädchen haben Grips", sagt Schwester Therese und man kann sehen, wie stolz sie ist. Seit seiner Gründung im Jahr 2002 haben 450 Mädchen im Schutzzentrum Zuflucht gefunden. Manche haben danach eine Berufsausbildung absolviert. Sie arbeiten heute als Polizistinnen, Lehrerinnen oder haben sich selbstständig gemacht. In den Reihen der Schwestern der Unbefleckten Maria von Nyeri befindet sich sogar die erste und einzige Samburu-Schwester.
Erste Samburu-Schwester
Als Mädchen weigerte sie sich, zu heiraten, und trat stattdessen in den Orden ein. Die Dorfältesten verstießen sie daraufhin aus der Gemeinschaft. Doch Schwester Roseline ließ sich nicht von ihrem Weg abbringen. Nachdem sie jahrelang von ihrem Dorf geächtet worden war, respektiert die Gemeinschaft sie heute.
Die Mädchen aus dem Schutzzentrum bewundern Schwester Roseline. Wenn sie zu Besuch kommt, suchen sie ihre Nähe. Besonders stolz sind sie auf ein Gedicht, das sie selbst verfasst haben: "Wir! Ja! Überlebende der Kinderehe und Genitalverstümmelung. Wir wollen unsere Gemeinschaft verändern. Lasst Mädchen Bildung bekommen. Wir sind Mädchen mit Visionen! Helft uns dabei, unsere Träume zu verwirklichen."
Und Träume haben sie alle. Sarah möchte später einmal als Chirurgin arbeiten. Lilian will "eine Ordensschwester wie Schwester Therese" werden und an einer Schule unterrichten. Und nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: "Ich will Kindern helfen, ihre Rechte zu verstehen.”