Mit der Pogromnacht von 1938 begann die gewaltsame Verfolgung der Juden in der NS-Zeit

"Eine Explosion von Sadismus"

Auf diese Gelegenheit hatte die nationalsozialistische Führung gewartet. Als der deutsche Diplomat Ernst vom Rath in Paris am 9. November 1938 an den Folgen eines Attentats stirbt, das ein 17-jähriger polnischer Jude zwei Tage zuvor auf ihn verübt hat, schlagen die Machthaber gegen die jüdische Minderheit im Deutschen Reich los. In der Nacht vom 9. auf den 10.November werden Wohnungen von Juden verwüstet, Geschäfte demoliert und geplündert und Synagogen in Brand gesteckt. Zu Tausenden werden Juden öffentlich misshandelt, viele von ihnen zu Tode geprügelt. Mit den Novemberpogromen vor 70 Jahren gingen die Nationalsozialisten zur offenen Gewalt gegen Juden über.

Autor/in:
Jürgen Prause
 (DR)

Es sollte aussehen wie ein "spontaner Ausbruch des Volkszorns", doch die judenfeindlichen Ausschreitungen wurden planmäßig von höchster Ebene in Gang gesetzt. Adolf Hitler und Joseph Goebbels waren in München bei einem Treffen der "Alten Kämpfer", als die Nachricht vom Tod des Diplomaten kam. Nach einem Gespräch mit Hitler gab der Propagandaminister in einer Rede vor den Parteiführern das Signal für die Gewaltaktionen. Die anwesenden NS-Funktionäre erteilen anschließend telefonisch den Befehl zum Losschlagen.

In seinem Tagebuch notierte Goebbels am nächsten Tag: "Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen. (...) Ich gebe gleich entsprechende Anweisungen an Polizei und Partei. Dann rede ich kurz dementsprechend vor der Parteiführerschaft. Stürmischer Beifall.
Alles saust gleich an die Telephone. Nun wird das Volk handeln." In der Öffentlichkeit schwiegen Hitler und Goebbels zu den Vorgängen, um den Anschein einer spontanen Reaktion der Bevölkerung auf das Pariser Attentat zu wahren.

Doch den meisten Zeitgenossen war klar, dass es sich um eine organisierte Aktion handeln musste. Das zeigt auch der Begriff "Reichskristallnacht", der sich schon im "Dritten Reich" für die Pogrome einbürgerte. Die genaue Herkunft des Ausdrucks ist unklar, es handelt sich jedoch nicht um einen Begriff der NS-Propaganda. Der Autor Friedemann Bedürftig hält es für wahrscheinlich, dass "der Volksmund wortschöpferisch" tätig war - in Anspielung auf das Meer von Scherben der eingeschlagenen Schaufenster.

Das Wort "Reichskristallnacht" imitiere den "Stil der NS-Vorliebe für Großsprecherei" und orte zugleich "die Verantwortung bei den tatsächlich Verantwortlichen", so Bedürftig. Die Nationalsozialisten verwendeten den Begriff offiziell nicht, sondern sprachen von "Demonstrationen", "Tumulten", "Übergriffen" oder "Judenaktion". Seit Ende der 80er Jahre wurde das Wort "Reichskristallnacht" zunehmend als verharmlosend und beschönigend empfunden und mehr und mehr durch "Pogromnacht" oder "Novemberpogrom" ersetzt.

Im Wesentlichen ging die Gewalt von SA- und SS-Männern und Parteimitgliedern aus. Vielerorts beteiligten sich daran aber auch spontan Teile der deutschen Bevölkerung oder applaudierten als Schaulustige. Der Historiker Saul Friedländer charakterisiert die antijüdische Aktion als "eine Explosion von Sadismus": "Eine unkontrollierbare Lust an der Vernichtung und Demütigung der Opfer trieb die Kommandos, die durch die Städte streiften."

Die Bilanz des organisierten Terrors: Hunderte Juden in ganz Deutschland wurden getötet, mehr als 1.000 Synagogen zerstört, rund 7.500 Geschäfte verwüstet. Etwa 26.000 jüdische Männer wurden für einige Monate in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald verschleppt. Hunderte weitere Juden begingen Selbstmord oder starben infolge von Misshandlungen in den Lagern.

Die längst entrechtete jüdische Minderheit sollte nach dem Urteil des Historikers Wolfgang Benz durch die inszenierten Pogrome erniedrigt und gedemütigt werden. Die systematische Vernichtung der Juden war im November 1938 noch nicht geplant. "Zu diesem Zeitpunkt erscheint totaler, abgrundtiefer Hass als das A und O des Angriffs", schreibt Saul Friedländer. Für die deutschen Juden war die Pogromnacht ein Vorbote der Massendeportation, die drei Jahre später einsetzen sollte, und der Ermordung in den Vernichtungslagern.