Moraltheologe appelliert nach dem Tod Merckles an die Verantwortung der Gesellschaft

"Symbol für unsere Situation"

"Es war die Ohnmacht, nicht mehr handeln zu können" - so erklärt die Familie die Selbsttötung des Unternehmers Adolf Merckle. "Seine Person ist ein Symbol für die heutige Situation und die Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen", sagt der Ethikprofessor und Moraltheologe Josef Römelt im domradio-Interview.

 (DR)

domradio: Wie haben Sie als auf die Nachricht von dem Selbstmord reagiert?
Römelt: Ich habe an den Menschen denken müssen. Was mag ihn dazu bewegt haben? Einen Menschen, der so erfolgreich war. Was mag ihn bewogen haben, jetzt den Tod zu wählen angesichts der Herausforderungen, die sich ihm gestellt haben? Ich denke, irgendwie ist das ein Symbol. Der Mensch Merckle ist ein Symbol für die heutige Situation und die Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen. Und die Frage: Reagieren wir mit Angst? Reagieren wir mit Flucht vor der Verantwortung? Oder haben wir den Mut, uns ihnen zu stellen?

domradio: In den ersten Kommentaren heißt es, Merckle habe immer auf der Basis christlicher Werte gehandelt. Hat die jetzt nicht ausgereicht?
Römelt: Da steht uns sicherlich kein Urteil zu, darüber nachzudenken, wie weit ein Mensch seinen Glauben wirklich entfalten und leben kann. Es zeigt vielmehr, dass die Last der Freiheit, die Aufgabe, Freiheit zu leben und zu gestalten, für alle Menschen - seien sie glaubend oder nicht - eine große Herausforderung ist. Dass das immer wieder auch eine Suche ist, das wirklich gestalten zu können.

domradio: Adolf Merckle war ein erfolgreicher Unternehmer, die Presse stürzt sich jetzt auf seinen Selbstmord - ist das in Ordnung?
Römelt: Ich sehe darin eine große Gefahr. Hier den Blick zu bewahren wirklich auf den persönlichen Menschen - das muss man sicherlich unterscheiden von den notwendigen politischen Entscheidungen, die im Augenblick anstehen. Die Frage, wieweit man das Regelwerk der Finanzmärkte anders gestalten muss, damit eine solche Eskalation der Spekulation nicht mehr möglich ist, damit nicht mehr ein ganzes System ins Ungleichgewicht gerät. Das muss man unterscheiden von den persönlichen Fragen, die dahinter stehen. Nämlich die persönlichen und moralischen Herausforderungen: Sind wir bereit nicht mit dem Neid zu spielen zwischen Reich und Arm? Sind wir bereit, miteinander Last der Verantwortung zu tragen für unseren Wohlstand? Sind wir bereit zu schauen, wie dieser Wohlstand auf andere Völker in einer zusammenwachsenden Welt gestaltet und gelebt werden kann?

domradio: Sie sprechen von Verantwortung. Adolf Merckle trägt die jetzt nicht mehr - worin liegt da der Appell an uns?
Römelt: Ich denke, das ist die Herausforderung. Uns steht kein Urteil zu, dass er jetzt nicht die Last der Verantwortung nicht hat tragen können. Aber es ist sicherlich keine gute Möglichkeit jetzt - im Angesicht der Krise - einfach zu fliehen. Jetzt ist Mut gefordert, sich den Herausforderungen zu stellen. Wir müssen gemeinsam Lösungen finden, egal ob Arm oder Reich, Angestellter oder Unternehmer.

domradio: Adolf Merckle war ein Macher, hat sich möglicherweise ungern helfen lassen. Steckt hinter seinem Tod auch die Aufgabe an jeden zu sagen: Lasst Euch helfen, Ihr müsst nicht alles alleine machen?
Römelt: Ja, der hohe Rat der Individualisierung und auch des Konkurrenzdrucks unserer Gesellschaft neigt dazu, die Menschen zu isolieren. Das ist sicherlich auch eine Botschaft, die von dieser Selbsttötung ausgeht.  Ist es tatsächlich so, dass Menschen heute überhaupt noch mit ihren Schwächen, Sorgen und Ängsten erscheinen dürfen -  oder müssen sie funktionieren? Eben dann, wenn es kritisch wird, einfach nur versuchen weiterzumachen? Oder dürfen sie dann auch einmal sich an andere anlehnen und Hilfe suchen? Das ist sicherlich auch eine große Frage.