DOMRADIO.DE: Sie haben in drei Gottesdiensten in den Kirchen St. Nikolaus und St. Ida geschwiegen statt zu predigen. Sie haben sich voll Scham lang auf den Boden gelegt. Was hat Sie zu dieser Geste bewogen?
Pfarrer Jörg Hagemann (Stadtdechant von Münster): Ich konnte und wollte angesichts des Leids so vieler Betroffener von sexualisierter Gewalt einfach keine normale Predigt halten. Mir schien es deutlich angemessener, nach einem kurzen Statement eine lange Zeit der Stille zu lassen und mir dann auch diese Stille zu geben.
DOMRADIO.DE: Was war in diesem stillen Moment für eine Atmosphäre in der Kirche?
Hagemann: Die Atmosphäre war sehr intensiv. Die Stille auszuhalten, innezuhalten und währenddessen ganz persönlich in meinen Gedanken und meinem Beten ganz nah bei den Betroffenen zu sein, hat mich persönlich sehr bewegt.
DOMRADIO.DE: Hat Sie das auch in irgendeiner Form gestärkt?
Hagemann: Es ging mir weniger darum, mich zu stärken. Ich würde mir wünschen und würde mich freuen, wenn es die Betroffenen der sexualisierten Gewalt irgendwie stärken würde oder dass sie es als etwas für sie Positives wahrnehmen könnten.
DOMRADIO.DE: Das Stärken, was ich meine, dreht sich darum, sich gegen diese Geschehnisse zu positionieren und vielleicht auch Konsequenzen einzufordern.
Hagemann: Mir war es einfach wichtig, die Stille zu haben. Und noch einmal, ich muss es leider wiederholen: Es ging mir nicht um mich. Es ist mir wichtig, dass ich all das tun möchte, was eben geht, um die Schritte, die Bischof Genn angekündigt und angestoßen hat, weiter zu begleiten, zu bestärken, da mitzuarbeiten und auch unser Bistum zu bestärken, diesen Weg weiterzugehen.
DOMRADIO.DE: Diese Geste des Sichniederwerfens hat sogar einen Namen: Prostratio. Was ist das für eine Geste?
Hagemann: Mir ist klar, dass diese Prostratio für viele Menschen eine sehr fremde Gebetshaltung ist. Die wird normalerweise in der katholischen Kirche nur in Priesterweihen und am Karfreitag ausgeführt. Mir ging es aber in dieser Haltung stärker um das Demütigsein, sich klein zu machen, still zu werden, auch aushalten zu können.
Manchen war das Zeichen, so habe ich gehört, zu klerikal. Aber in den Gottesdiensten, die ich zu Karfreitag mitfeiern darf, dürfen auch Nicht-Kleriker schon seit längerer Zeit diese Prostratio ausführen.
DOMRADIO.DE: Sie haben ihre Motivation für diese Geste auf Facebook zusammengefasst. Was haben die Menschen Ihnen da geschrieben?
Hagemann: Zu einem Großteil haben die Menschen kommentiert, dass sie sehr gut verstehen konnten, dass es in dieser Zeit eine Zeit der Stille statt vieler Worte braucht.
Es gab natürlich auch Kommentierende, die aus sicherlich ganz unterschiedlichen Gründen mit der Kirche abgeschlossen haben und mir auch meine Geste nicht abnehmen konnten. Das ist auch selbstverständlich in Ordnung und aus deren Lebensgeschichten heraus manches Mal auch sehr verständlich.
Es wurde auch gefragt, ob es denn diese mediale Reaktion braucht. Aber die überwiegende Mehrheit schien ob dieses Zeichens auch sehr froh zu sein.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet es, wenn ein Geistlicher da steht und sagt, er habe keine Worte?
Hagemann: Zweierlei. Ich weiß, dass mir ein Mitarbeiter vor einiger Zeit, als ich darüber nachdachte, gesagt hat: "Du kannst doch jetzt nicht sagen, du hast keine Worte, du weißt doch seit Monaten, was da rauskommt." Also, eigentlich müsste man Worte haben.
Aber auf der anderen Seite heißt das für mich, als betender Christ zu sagen, manchmal gehen Worte nicht, da brauche ich Stille, ein inneres Luftholen oder manchmal auch Luft anhalten als Gebet.
DOMRADIO.DE: Was muss sich Ihrer Ansicht nach denn strukturell ändern, damit die katholische Kirche wieder Glaubwürdigkeit gewinnen kann?
Hagemann: Mir geht es nicht in erster Linie um die Glaubwürdigkeit der Kirche. Ich möchte eigentlich viel stärker, dass in all dem, was wir jetzt tun, absolut verhindert wird, so weit es eben möglich ist, dass es weitere neue Betroffene dieses sexuellen Neides, dieser sexuellen Missbräuchlichkeiten und dieser schrecklichen Taten gibt.
Allgemein glaube ich, dass wir in der Kirche noch große Veränderungen brauchen. Ich habe das in einer Predigt am Fronleichnam gesagt. Wir brauchen eine vollständige Geschlechtergerechtigkeit in der Kirche. Wir brauchen eine deutliche Machtverteilung und Aufteilung in der Kirche. Und wir brauchen, davon bin ich überzeugt, auch eine veränderte Sicht auf die Sexualmoral.
Es geht mir aber wirklich, und das ist mir ein echtes Anliegen, in erster Linie darum, dass wir verhindern, dass es neue Opfer sexualisierter Gewalt gibt und dass die Botschaft Jesu von Nazareth, dem Christus, wirklich eine von Leben, Frieden und Liebe ist und dass diese Botschaft auch wieder leuchten kann.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.