Musikwissenschaftler über die Orgel in der Geschichte und an Weihnachten

"Überirdisch und in gewisser Weise entrückt"

Beim festlichen Oratorium oder gemeinschaftlichen Singen im Gottesdienst: Zu Weihnachten sind Orgeln wieder mit allen Registern im Einsatz. Der Musikwissenschaftler Michael Kaufmann erklärt, warum die "Königin der Instrumente" fasziniert.

Orgelpfeifen im Kölner Dom (DR)
Orgelpfeifen im Kölner Dom / ( DR )

KNA: Herr Professor Kaufmann, Orgelbau und Orgelmusik könnten 2017 als eines der ersten deutschen Kulturgüter auf die internationale Unesco-Liste des immateriellen Kulturerbes kommen. Haben Sie damit gerechnet?

Kaufmann (Orgelsachverständiger und Leiter der Aus- und Fortbildungskurse der Vereinigung der Orgelsachverständigen Deutschlands): Ich freue mich sehr über diese Ehre, die allen zuteil wird, die mit Orgelbau und Orgelmusik zu tun haben. Allerdings habe ich schon ein wenig darauf spekuliert, dass es so kommen wird. Die Orgel ist als Kulturgut seit Jahrhunderten im Bewusstsein der Menschheit, gerade in Europa und speziell in Deutschland. In ihrer Vielfalt und historischen Entwicklung ist sie zu einem überaus bedeutenden Kulturfaktor geworden.

KNA: Was macht ihren Reiz aus?

Kaufmann: Die technische Idee hinter diesem Musikinstrument ist genial, nämlich die Erzeugung von Tönen mit Hilfe von komprimierter Luft: Zunächst funktionierte die Verbindung von Taste zu Ventil über eine Mechanik, später auch über Pneumatik und Elektrik - bis hin zur Computer gestützten Steuerung in unserer Zeit. Die Orgel ist also sehr komplex und wird im Miniaturformat ebenso individuell gestaltet wie in Riesendimensionen. Hinzu kommt das Resultat: eine musikalische Vielfalt, die von einem einfachen Liedsatz bis hin zu groß angelegten Symphonien reicht, sowohl komponiert als auch improvisiert. Diese Möglichkeiten der künstlerischen Interpretation und Darstellung sind auf anderen Instrumenten so nicht vorhanden.

KNA: Warum haben Orgelkonzerte gerade zu Weihnachten Hochkonjunktur?

Kaufmann: Die Orgel ist ein Faszinosum, weil ihre Klänge so überirdisch und in gewisser Weise entrückt sind - und doch gegenwärtig. In den Klangfarben kann sich der Hörer verlieren, wird aber beispielsweise durch die Basstöne in seiner Körperlichkeit angesprochen. Weihnachten und die Winterzeit lösen bekanntlich im Menschen bestimmte Stimmungen aus, die die Orgel unterstützen kann.

KNA: Welche Rolle spielen Orgeln außerhalb von Kirchen?

Kaufmann: Wir sehen die Orgel vor allem als Kircheninstrument, und das ist grundsätzlich richtig. In deutschen Kirchen stehen ungefähr 50.000 von ihnen. Im 19. Jahrhundert gab es auch Orgeln in vielen deutschen Synagogen, in Konzertsälen und Salons. Vor allem der Strang der Kirchenmusik entwickelte sich weiter, nur wenige Konzertsaal- oder Hausorgeln blieben erhalten bzw. werden neu gebaut. Zudem sind zahlreiche Menschen in Drehorgelvereinen organisiert, spielen Straßenmusik oder haben die Instrumente in Karussells integriert. Auch gibt es immer noch einige Kinos, in denen die Orgel zur Untermalung vor allem von Stummfilmen eingesetzt wird.

KNA: Die Orgelkultur in den deutschen Synagogen fiel dem Wüten der Nationalsozialisten zum Opfer.

Kaufmann: Und danach wurde sie nicht wieder umfassend aufgenommen. Im Gegensatz zu den liberalen jüdischen Gemeinden standen und stehen die orthodoxen der Orgel ablehnend gegenüber.

KNA: Die Orgeln in den Synagogen zerstören die Nazis, andernorts entwickelten sie ein Faible für das Instrument. Wie kam es dazu?

Kaufmann: Im 19. Jahrhundert wurde die Orgel immer größer und grundtöniger, sodass der Klang schließlich als dumpf empfunden wurde. Daraufhin orientierte man sich an den vergleichsweise hell klingenden norddeutschen Barockorgeln. Dieser Typus wurde ab den 1920er Jahren zum Vorbild der sogenannten Orgelbewegung. In dieser Bewegung verdichteten sich dann soziokulturelle und politische Strömungen - und "norddeutsch" wurde schnell mit "arisch" gleichgesetzt. So wurden für die Feierhallen der Nationalsozialisten spezielle Instrumente gebaut, die diesem Ideal entsprachen. Es gab sogar eine eigene Orgelarbeitsgemeinschaft der Hitlerjugend.

KNA: Wie ging es nach der NS-Zeit weiter?

Kaufmann: Die Ideologie der Orgelbewegung wurde unkritisch verbreitet. Was bis in die 1970er Jahre hinein und zum Teil auch später noch in der Orgelwelt geschah - vor allem in Deutschland, aber auch weltweit -, trug diese Vorstellung weiterhin in sich. Das Deutsche Reich hat den Zweiten Weltkrieg zwar verloren, aber den "Endsieg" gewissermaßen auf dem Gebiet der Orgel errungen, indem der zugrundeliegende Standard weltweit etabliert wurde. Selbst in den USA oder Australien gibt es bis heute die sogenannte Tracker-Orgel. Sie entspricht im Prinzip dem Vorbild der norddeutschen Barockorgel bzw. dem, was man dafür hielt.

KNA: Gab es eine Aufarbeitung?

Kaufmann: Indirekt. Die Nationalsozialisten wollten ein hartes, stählernes Klangbild. Diese Töne konnte man schließlich nicht mehr hören. Die Cavallie-Coll-Orgeln aus dem Frankreich des 19. Jahrhunderts wurden ab den 1980er Jahren zum Vorbild. Seit etwa der Jahrtausendwende spielt die deutsche Romantik wieder eine größere Rolle. Fachgerechte Restaurierungen historischer Orgeln oder deren Rekonstruktionen ergänzen das Spektrum. Wir kommen also zu sehr vielseitigen Instrumenten, die trotzdem oder gerade auch deshalb ein in sich geschlossenes Klangbild erreichen, das den Menschen ansprechen und berühren will.

KNA: Wie schätzen Sie die Zukunft der Orgeln in Zeiten von Rekord-Kirchenaustrittszahlen ein?

Kaufmann: Ich habe um die Orgel keine Sorge. Als Orgelsachverständiger mache ich sowohl in katholischen als auch evangelischen Kirchengemeinden sehr positive Erfahrungen. Für die beiden Hauptinstrumente der Kirche, also Orgeln und Glocken, ist immer Geld da. Probleme gibt es gelegentlich in Mitteldeutschland und in den nördlichen Bundesländern. Dennoch arbeiten in Deutschland tausende von hauptamtlichen Kirchenmusikern, 400 Orgelbaubetriebe beschäftigen 2.800 Menschen. Es wird im Orgelbau einen Schwund geben, weil nicht jede Firma die Qualität liefert, die heute gefordert wird. Doch in den meisten Fällen sorgt die Zusammenarbeit von Orgelsachverständigen und Orgelbauern für große Qualität und Nachhaltigkeit.

KNA: Zum Abschluss: Welches Orgelstück sollte jeder einmal hören?

Kaufmann: Das "Orgelbüchlein" von Johann Sebastian Bach wird eröffnet durch einen scheinbar schlichten Choral: "Nun komm, der Heiden Heiland". In diesem Tonsatz findet musikalisch und bibelexegetisch so viel statt, dass er dem aufmerksamen Hörer das ganze Geheimnis der Menschwerdung Christi vergegenwärtigt. Viele Orgelstücke haben solch tiefe Dimensionen. Insofern würde ich nie eine letzte Empfehlung wagen. Aber ein "Bach" zum Einstieg ist sicher keine falsche Wahl.

Das Interview führte Paula Konersmann.


Quelle:
KNA