DOMRADIO.DE: Der erste Tag des neuen Jahres ist ein guter Tag, um sich im Mut zu üben, oder? Was meinen Sie?
Melanie Wolfers (Theologin, Seelsorgerin und Autorin): Der erste Tag lässt das neue Jahr vor einem wie ein frisch beschneites Feld liegen. Welche Spuren möchte ich in diesem neuen Jahr ziehen? Was ist mir wichtig? Von daher liegt es sehr nahe, dass man sich Vorsätze macht und es ist sicher gut zu schauen, was einem wichtig ist. Worauf kommt es mir an? Was möchte ich umsetzen und mutig angehen?
Zugleich gehört auch Mut dazu, nicht dem Neujahrssyndrom zu verfallen. Sich 77 verschiedene Vorsätze vorzunehmen, um dann spätestens nach einer Woche festzustellen: Eigentlich wollte ich mit dem Rauchen aufhören, jeden Tag Sport machen, das Handy nicht mit ins Bett nehmen – bei 77 Vorsätzen klappt das nicht. Weniger ist mehr. Einen Vorsatz in Gottes Namen umsetzen und dann schauen, was einem das Leben an neuen Wellen zuspielt.
DOMRADIO.DE: In Ihrem Buch „Trau dich, es ist Dein Leben. Die Kunst mutig zu sein“ geht es darum, das Leben anzupacken. Und zu ihnen kommen Menschen in die Beratung, die sagen: Ich will nicht immer so angepasst sein, ich will mutiger sein, ich will angstfrei leben. Wie ändert sich das Leben denn, wenn man mutiger ist?
Wolfers: Jeder Mensch möchte mutig sein. Mut übt eine universale Anziehungskraft aus. Und wenn ich nicht einfach nur angepasst lebe, sondern mich mutig zu mir und dem, was mir wichtig ist, bekenne, dann verleiht das ein tiefes Gefühl der Selbstzufriedenheit.
Ich schaue abends in den Spiegel und sage, ja, es ist zwar nicht alles gut gelaufen, aber ich bin ich, ich bin mir gegenüber loyal und treu gewesen, ich bin dem Leben gegenüber loyal und treu gewesen. Das verleiht ein Gefühl von Stimmigkeit.
DOMRADIO.DE: Sie selbst waren in ihrem Leben auch mutig. Sie sind zum Beispiel in eine Ordensgemeinschaft eingetreten – eine große Entscheidung. Wie lebt es sich damit und worauf kommt es an, damit man bei den Entscheidungen, die man mutig getroffen hat, auch bleibt?
Wolfers: Ich bin sehr dankbar, vor 14 Jahren in die Gemeinschaft der Salvatorianerinnen eingetreten zu sein. Ich bin sehr dankbar für mein Leben dort, was aber nicht heißt, dass es Tag für Tag einfach ist. Dieses "Ja", das ich zu dieser Gemeinschaft gesprochen habe, will Tag für Tag neu eingeübt werden.
Und das betrifft alle weitreichenden Entscheidungen. Ob ich eine Arbeitsstelle eingehe, die mit viel Verantwortung einhergeht, ob ich in einer Beziehung lebe und zu jemandem "Ja" sage. Das große "Ja", das wir sprechen, wird im Alltag in kleine Münzen übersetzt. Und da kann es hilfreich sein, sich immer wieder an die Ursprungsintention zu erinnern und zu fragen: Was hat mich denn da auf den Weg gebracht? Dann kann ich dem, was ich leben möchte, auch treu bleiben.
DOMRADIO.DE: All das gilt natürlich ganz besonders in Beziehungen, die wir zu anderen Menschen führen. Das ist auch in Ihrem Buch ein großes Thema. Inwiefern braucht man denn besonderen Mut für Freundschaft oder auch für Liebe?
Wolfers: Freundschaft und Liebe ist nichts für Feiglinge. Denn, wenn ich Menschen liebe oder wenn ich jemanden in einer Freundschaft nahe an mich heran lasse und ihm vertraue, bin ich ganz verwundbar. Je mehr ich einem Menschen vertraue, umso mehr lasse ich ihn an mich heran, umso berührbarer bin ich und umso verletzbarer bin ich.
Zugleich liegt darin aber eine wesentliche Quelle von Glück in unserem Leben. Dass wir Beziehungen leben, in denen wir Nähe spüren, in denen wir zeigen können, was in uns vorgeht, das Geschenk erfahren können, erkannt zu sein, und zugleich auch dieser anderen Person nahe kommen.
Aber Vertrauen birgt immer auch ein Risiko in sich. Es ist ein Wagnis, auf den anderen zuzugehen, die Hand zu reichen, sich jemandem anzuvertrauen. Und ob dieses Vertrauen trägt, ob dieser mutige Brückenschlag sich bewährt, erfahre ich in dem Maße, in dem ich jemandem einen Vertrauensvorschuss schenke.
Das Interview führte Verena Tröster.