Mutmaßlicher AKP-Ableger will ins Europaparlament

Wie viel Erdogan steckt in der "Erdogan-Partei"?

Parteigründungen von Muslimen versickerten bisher im Sande. Nun könnte die türkisch geprägte Dava zu einer politischen Kraft werden. Das schürt Ängste vor Spaltung und Einfluss aus Ankara. Andere raten zu Gelassenheit.

Autor/in:
Christoph Schmidt
Recep Tayyip Erdogan / © Ali Unal (dpa)

Der Name der Partei klingt progressiv, doch die deutsche Politik ist alarmiert. Die im Januar gegründete "Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch" (Dava) – formal erst eine Wählervereinigung – gilt als politischer Arm des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und Ableger seiner Partei AKP. Bei der Europawahl am 9. Juni will die neue Kraft unter Türkeistämmigen und wahlberechtigten Muslimen insgesamt punkten – als Stimme gegen Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit.

Ende von Diskriminierung gefordert 

So fordert die Dava in ihrer Gründungserklärung, dass "Menschen mit ausländischen Wurzeln ihre Rechte in vollem Umfang zugesprochen bekommen". Oft erlebten sie "bei der Suche nach Wohnungen, bei Bewerbungen, aber auch in vielen alltäglichen Situationen wie bei Behördengängen, dass sie nicht als vollwertige Mitglieder von der europäischen Gesellschaft angenommen werden". Außerdem verlangt die Dava mehr Sozialleistungen gegen Kinder– und Altersarmut und "eine pragmatische sowie ideologiefreie Flüchtlingspolitik".

Europaparlament (dpa)

Einfluss aus Ankara weist Dava-Chef Mehmet Teyfik Özcan zurück und spricht auf Facebook von "infamen Verleumdungen". Es gebe weder logistische noch finanzielle Unterstützung aus dem Ausland. Aus Sicht der Expertin Susanne Schröter weisen Programmatik wie Personal der Dava aber klar in die Richtung des islamistischen Präsidenten. "Erdogan versucht seit Jahren, seinen Einfluss in Deutschland und Europa zu vergrößern und die Assimilation von Türken zu verhindern", sagte sie der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). 

"Absurd, Nähe zu Erdogan zu leugnen"

Die großen Moscheeverbände wie die aus Ankara gesteuerte Ditib und Islamische Gemeinschaft Milli Görüs sowie die AKP-Lobbyorganisation "Union Internationaler Demokraten" (UID) habe der Staatschef oft für Wahlkampf und nationalistische Propaganda genutzt, so die Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam. "Die führenden Dava-Leute sind damit verbandelt und es wäre absurd, hier die Nähe zu Erdogan zu leugnen." Vielmehr sei die Dava offenbar eine Partei, "die auf dem Reißbrett geplant wurde".

Paradoxerweise steht das Dava-Personal selbst für die gut integrierte Mittelschicht aus der zweiten oder dritten Migrantengeneration. Die beklagte Diskriminierung von Muslimen scheint ihren eigenen beruflichen Erfolg nicht aufgehalten zu haben. Europa-Spitzenkandidat Fatih Zingal ist Rechtsanwalt und UID-Mitglied. Auf Listenplatz zwei steht der Orthopäde Ali Ihsan Ünlü, zeitweise hochrangiger Ditib-Funktionär. 

Islamverband Ditib

Zur Türkisch-Islamischen Union (Ditib) gehören bundesweit mehr als 900 Ortsgemeinden. Die größte islamische Organisation in Deutschland vertritt nach eigenen Angaben über 70 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime. Gegründet wurde der Dachverband, der in Köln sitzt, 1984 als eingetragener Verein.

Logo der Ditib in Stuttgart / © Marijan Murat (dpa)

Gelassenheit geraten 

Der dritte Kandidat und Allgemeinmediziner Mustafa Yoldas war Vorsitzender der "Internationalen Humanitären Hilfsorganisation", die 2010 wegen ihrer Verbindungen zur Terrormiliz Hamas verboten wurde. Zudem saß er im Vorstand der vom Verfassungsschutz beobachteten Milli Görüs. Wie Parteichef Özcan, der als Journalist für das deutsche Portal des türkischen Staatssenders TRT arbeitet, verglich er in Postings Israels Vorgehen im Gazastreifen mit dem Holocaust.

Trotzdem rät Integrationswissenschaftler Yunus Ulusoy vom Essener Zentrum für Türkeistudien zu Gelassenheit. Einen "Gründungsbefehl" Erdogans hält er für abwegig und sieht die Dava gar als Beweis für eine Identifikation mit Deutschland: "Muslime wollen dauerhaft ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft sein, aber dafür nicht ihre Identität und ihre Werte verleugnen müssen", sagte er der KNA. 

Die traditionelle Bindung der Gastarbeiter an SPD und Grüne schwinde, auch weil sie mittlerweile als "zu woke" gälten. "Die Dava ist nicht die erste Partei ihrer Art. Es gibt seit langem die Konkurrenzpartei 'Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit'. Ein reifes Einwanderungsland hält das aus." 

Dava Ergebnis der Integrationspolitik 

Susanne Schröter sieht es umgekehrt: "Die deutsche Integrationspolitik hat jahrelang geschlafen. Das Ergebnis ist die Dava." Auch Politiker aller Parteien wie CDU-Vize Jens Spahn, SPD-Chefin Saskia Esken und Agrarminister Cem Özdemir (Grüne) warnen vor einer Spaltung der Gesellschaft durch Strippenzieher aus Ankara. 

Kritiker der Ampelregierung sehen deren neues Staatsbürgerschaftsrecht nun erst recht als Eigentor. Sie verweisen darauf, dass sich die Zahl wahlberechtigter Muslime mittelfristig verdoppeln könnte. Darin aber ein homogenes Wählerpotenzial für die türkisch dominierte Dava zu sehen, hält Ulusoy für verfehlt. Schon heute bestünden etwa die 1,5 Millionen türkischstämmigen Wähler auch aus Kurden und Aleviten. Und: "Die Muslime sind zu heterogen, um sich hinter einer migrantischen Partei zu versammeln." 

Dass die Dava zumindest einen Abgeordneten ins EU-Parlament bekommt, ist angesichts der fehlenden 5-Prozent-Hürde aber nicht unwahrscheinlich. Erst danach soll aus der bisherigen Wählervereinigung eine offizielle Partei werden, heißt es.

Türkei-Wahl endet im Ausland - hohe Beteiligung in Deutschland

Für rund 3,4 Millionen Wahlberechtigte im Ausland endet an diesem Dienstag die Abstimmung für die Parlaments- und Präsidentschaftswahl in der Türkei. Unter den 1,5 Millionen Menschen in Deutschland mit türkischem Pass zeichnet sich eine hohe Wahlbeteiligung ab. Binnen elf Tagen - also zum Stand am vergangenen Sonntag - haben in Deutschland 642 000 Personen gewählt, berichtete Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien in Essen. Im Vergleich zur letzten Wahl 2018 bedeute das einen Zuwachs von gut 19 Prozent.

Wohin steuert die Türkei? / © Lukas Schulze (dpa)