Schon häufiger haben sie sich getroffen und konstruktiv diskutiert, so Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Als dann die Idee zu einem Buch entstand, habe sie schnell zugesagt, es vorzustellen. Obwohl sie nicht allen dort enthaltenen Thesen zustimme. Es sei aber wichtig, "allerlei Mythen um Armut zu entzaubern". Das Buch von Caritas-Generalsekretärs Georg Cremer "Armut in Deutschland" könne zu einer Versachlichung der Debatte beitragen, erklärte sie am Freitag bei der Vorstellung in Berlin.
Schon vor dem Erscheinungsdatum am vergangenen Montag hatte das Buch für Furore gesorgt. Cremer hatte einige Thesen vorab in einer überregionalen Tageszeitung aufgezeigt, auch die Bischofskonferenz hatte sich bei ihrer Vollversammlung in Fulda vor ein paar Tagen mit dem Buch befasst.
Nur ein nüchterne Blick auf die Zahlen kann helfen
Cremers Credo: Die Dauerempörung über das Thema Armut nützt niemandem, am wenigsten den Armen selbst. Die Superlative der Skandalisierung stumpften ab - und beförderten Ängste in der Mitte der Gesellschaft vor einem Abstieg. Gegen den Widerstand dieser Mitte könne den Bedürftigen aber nicht geholfen werden. Stattdessen gelte es, einen genauen und nüchternen Blick auf die Zahlen zu werfen und die nötigen Schlüsse daraus zu ziehen. Denn das Problem Armut in Deutschland sei drängend, und zügiges Handeln sei erforderlich.
Damit stieß er auf offene Ohren bei der Ministerin. Notwendig sei ein "vorsorgender und befähigender Sozialstaat". In ihrem Amt arbeite sie daran, dass der Sozialstaat wieder stärker Notlagen vorbeuge und Hilfe zur Selbsthilfe leiste. In diesem Sinne bedeute der Begriff Selbstverantwortung für sie "die Wertschätzung für den Menschen". Zugleich sagte sie, dass Armut kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem sei. Sie sehe sich bei der Überwindung der Armut "an vorderster Front". Es sei aber jeder einzelne gefordert, seinen Beitrag zu leisten.
Statistiken wurden falsch aufgestellt
Auch sie warnte vor einer zu emotionalen Debatte, die Fakten außer Acht lasse und kritisierte etwa eine Panikmache vor einer drohenden Altersarmut. Derzeit bezögen gerade einmal 3,1 Prozent der Menschen ab 65 Jahren eine Grundsicherung. Die Zahl werde steigen. Zahlen, nach denen 2030 jeder zweite Neurentner in Armut lebte, seien aber unseriös. Der WDR hatte im vergangenen Frühjahr eine entsprechende Prognose veröffentlicht. Auch Äußerungen, nach denen die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergehe, seien in dieser Verkürzung nicht richtig.
Zwar habe es bis 2005 ein stärkeres Auseinanderdriften gegeben, danach aber nicht mehr. Sie kritisierte den "Teufelskreis", der darin bestehe, dass die Erhöhung des Regelsatzes zu einer höheren Anzahl von in dieser Weise als einkommensarm erfassten Menschen führe. In den Statistiken steige dann die Zahl der Armen.
Familienhilfe sei nicht nur Sache der Ämter
Ein zentraler Punkt für sie in dem Buch sei es zu schauen, wie "wir besser in den Familien helfen können". Dabei müssten die Eltern stärker miteinbezogen werden. "Wir kommen da oft nicht ran", so Nahles. Familien nähmen Hilfen der Jugendämter oft nicht an, weil sie Angst vor den Behörden hätten und davor, dass sie ihre Privatsphäre durchleuchteten.
Und Nahles räumte auf mit dem Vorurteil des zufriedenen Hartz-IV-Empfängers: Es sei eine kleine Minderheit, die sich in diesem Netz einrichte. Die große Mehrheit leide darunter, das Gefühl zu haben, nicht mehr gebraucht zu werden.
Kein Patentrezept für Armutsbekämpfung
Ein Patentrezept, die Armut wirksam zu bekämpfen, hat auch Cremer nicht. Er plädiert für den mühsamen Weg der kleinen Schritte und fordert etwa mehr vorbeugende Maßnahmen gegen Alters- und Kinderarmut. Notwendig seien Investitionen in Bildung, erschwinglichen Wohnraum, Anhebung der Grundsicherung und Absicherung im Alter. "Wir müssen jeden Menschen in die Lage versetzen, sein Potenzial so weit zu entfalten, dass er das Leben selbst in die Hand nehmen kann."
Ein letztes Mal lobte Nahles, für die das zähe Ringen um Mittel für Präventionsarbeit zum täglichen Geschäft gehört, Cremers Buch. Sie wünsche, dass es "ein Bestseller wird". Zugleich betonte sie, dass "ich mich nicht aus der Verantwortung entlassen fühle".