DOMRADIO.DE: Der Titel Ihres Buches lautet: "Der Papst der Enttäuschungen". Ihre These ist, dass viele in ihm einen Reformer sehen, der von seinen Gegnern an Veränderungen gehindert wird, er aber in Wirklichkeit keine weitreichenden Veränderungen der Kirche anstrebt. Haben die Menschen sich durch sein bescheidenes Auftreten täuschen lassen? Er verzichtet auf einen pompösen Amtssitz, fährt Fiat und lässt Duschen für Obdachlose im Vatikan errichten. War da bei vielen der Wunsch der Vater des Gedankens?
Michael Meier (Theologe und Journalist): Ja, es gab große Gesten und Aussagen, die viele zu der Hoffnung verleitet haben, dass jetzt Reformen kämen. Aber das stimmt so nicht. Er ist ein Seelsorger, der Barmherzigkeit walten lassen und einen neuen pastoralen Zugang zu den Menschen will. Aber daraus zu schließen, dass er große Reformen vornimmt, ist falsch.
2015 sagte er zum Beispiel einer evangelischen Frau, die fragte, wann sie mit ihrem katholischen Mann zur Kommunion könne, sie solle ihrem Gewissen folgen. Aber 2017 vor dem großen Reformationsjubiläum pfiff er die deutschen Bischöfe in der Frage nach einem gemeinsamen Abendmahl zurück. Franziskus täuscht und enttäuscht.
DOMRADIO.DE: Täuscht er bewusst oder zaudert er und kann keine klaren Entscheidungen treffen?
Meier: Beides. Er zaudert und wagt nicht, die Lehre anzutasten. Er ist Seelsorger, das ist seine Domäne und nicht die Theologie. Er will die Lehre nicht neu ausloten und ich glaube auch, es lebt sich ganz gut mit dem Image des verhinderten Reformers. So bleibt er für seine Anhänger eine Lichtgestalt.
DOMRADIO.DE: Einer der am häufigsten zitierten Sätze von Papst Franziskus ist: "Wenn einer schwul ist und den Herrn sucht und guten Willen hat, wer bin ich, ihn zu verurteilen?" – Dieser Satz wird als Beleg für einen Wandel in der Haltung der katholischen Kirche gegenüber Homosexuellen angeführt. Sie sagen: Der Satz ist aus dem Kontext gerissen und wird falsch ausgelegt. Inwiefern?
Meier: Das war ganz am Anfang, als er Battista Ricca - den früheren Nuntiatursekretär in Montevideo - zum Prälaten der Vatikanbank und zum Direktor der Casa Marta gemacht hatte und herausgekommen war, dass dieser in der Schwulenszene unterwegs war.
Von Journalisten danach gefragt, antwortete er mit diesem viel zitierten Satz. Also wieder der pastorale Zugang bei einer Einzelperson. Später hat er sich in seinem Lehrschreiben "Amoris Laetitia" ausdrücklich gegen die Homoehe ausgesprochen und den Weltkatechismus zitiert, wonach homosexuelle Beziehungen unnatürlich seien.
Es ist immer das Gleiche: Der pastorale Zugang im Einzelfall, aber dann scheut er sich, die Konsequenzen in Bezug auf die Lehre zu ziehen.
DOMRADIO.DE: Aber die Segnungen von homosexuellen Paaren ist seit seinem Schreiben "Fiducia Supplicans" im Dezember 2023 möglich. Zwar wurde die Vielzahl der Bedingungen – wie die "15-Sekunden-Regel" – oft belächelt, aber noch vor zwei Jahren wäre das undenkbar gewesen. Sehen Sie da keinen Wandel?
Meier: Das stimmt, das ist ein Wandel. Aber ich kann trotzdem keinen Fortschritt darin erkennen. Für mich ist das eine Mogelpackung. Wenn ich jemanden segne, dann würde ich meinen, dass dieser Segen diese Beziehung als gut und in Ordnung qualifiziert. Und das tut es ja gerade nicht. Es ist ein Verständnis von Segen, der mir sehr fremd ist.
DOMRADIO.DE: Könnte es denn vielleicht ein Zugeständnis an die Konservativen sein, also sozusagen der Versuch, vorwärts zu gehen, ohne die Konservativen zu sehr zu düpieren?
Meier: Ich meine, nein. Die rote Linie ist die Lehre und die besagt, dass praktizierte Homosexualität gegen die Natur sei und diese Leute in Keuschheit leben müssten. Ich glaube nicht, dass das ein Zugeständnis ist. Er will einfach die Lehre nicht verändern und schaut nach pastoralen Spielräumen, um die Hartherzigkeit dieser Lehre ein bisschen abzumildern.
DOMRADIO.DE: Die größten Hoffnungen der Reformer ruhten auf der Amazonas-Synode 2019, bei der unter anderem auch über die "viri probati" und die Rolle der Frauen vor Ort beraten wurde. Fast überall herrschte die Erwartung, dass der Zölibat in seiner verpflichtenden Form fallen würde. Und obwohl sich die Synodalen am Ende mit Zweidrittelmehrheit sowohl für die viri probati als auch für mehr Verantwortung für Frauen aussprachen, erwähnt der Papst beides in seiner Schrift "Querida Amazonia" nicht. Warum beruft er eine Synode ein, wenn er dann doch macht, was er will?
Meier: Zum einen ist er der Einheit der Weltkirche verpflichtet. Andererseits hat er die viri probati selbst in einem Interview damals ins Spiel gebracht und von neuen Dienstämtern für Frauen gesprochen. Er sagt halt schnell mal etwas und denkt an das Pastorale, aber vor der Änderung der Lehre schreckt er zurück, da fühlt er sich auch nicht so sicher.
Er ist kein großer Theologe und es ist für ihn auch nicht so wichtig. Die Seelsorge ist wichtig für ihn.
DOMRADIO.DE: Sind es vielleicht nicht die großen Reformen von Lehre und Institutionen, sondern die kleinen Schritte des Wandels wie das Zugehen auf die Homosexuellen, die Ernennung von Kardinälen aus der Peripherie, eine für die ganze Weltkirche geltende Meldepflicht bei Fällen sexuellen Missbrauchs? Also kleine Entwicklungsschritte hin zu einer armen, demütigen Kirche, die er fordert und weg von diesen doktrinären Belehrungen, die das Kirchenvolk abschrecken?
Meier: Ja, er will gemäß dem Evangelium die Option für die Armen verwirklichen. Er geht auf die Armen zu, die Migranten, die Ausgeschlossen, die Frauen. Das ist alles gut und recht, aber er müsste auch Konsequenzen ziehen und das macht er nicht.
Zum Beispiel beim sexuellen Missbrauch: Natürlich hat er die Regeln verschärft, aber die systemischen Ursachen des Missbrauchs, wie Zölibat oder die Stellung der Frau, fasst er nicht an. Und bei der Frauenfrage kann er beim nächsten Mal 90 anstatt 50 Frauen zu einer Synode stimmberechtigt zulassen, aber den qualitativen Sprung hin zur Gleichberechtigung, zur Ordination der Frau, das wird nicht geschehen.
Alle seine pastoralen Gesten sind für den nächsten Papst nicht bindend, verpflichtend sind die Lehrschreiben und die werden zu wenig gelesen. Man hört immer wieder von diesem Papst, was er Tolles gesagt hat und gemacht hat, aber letztlich zählt für ein späteres Pontifikat, was in den Lehrschreiben steht.
DOMRADIO.DE: Wenn Franziskus kein Reformer ist, warum sind dann die kircheninternen Gegner so alarmiert, dass sie ihn sogar der Häresie beschuldigen?
Meier: Es gibt tatsächlich eine Symmetrie der Erwartungen bei den Konservativen und Reaktionären. Sie denken auch, dass wenn in Ausnahmefällen wiederverheiratete Geschiedene zur Kommunion gehen können, dies dann ein Dammbruch ist und die Unauflöslichkeit der Ehe antastet. Also, die Reaktionären und Konservativen denken eigentlich in die gleiche Richtung, wie die Reformkatholiken.
Und man darf nicht vergessen, dass es 1988 zum Schisma mit den Piusbrüdern kam, die Johannes Paul II. und seinem Glaubenspräfekten Kardinal Ratzinger den Abfall vom Glauben vorwarfen. Eine Abspaltung hat es unter Franziskus bislang nicht gegeben, aber sie sprachen damals eine ähnliche Sprache wie die Dubia-Kardinäle heute.
DOMRADIO.DE: Eine Ihrer Schlussfolgerungen lautet, "dass die Kirche in ihrer Substanz schlicht nicht reformierbar ist". Welche Folgen hat das für die katholische Kirche und deren Fortbestand?
Meier: Ich bin nicht sehr optimistisch. Vielleicht wird sich der Schwerpunkt der Kirche in die südliche Hemisphäre verlagern, aber hier in Europa wird es wohl so kommen, wie es der Religionssoziologe Franz-Xaver Kaufmann prognostiziert, dass eine hochinstitutionalisierte und kranke Kirche zwar weiterleben kann, aber die Seele der Leute nicht mehr erreicht.
In Südamerika ist das anders, da sind die Menschen noch religiös. Hier wird man weiterhin den Urbi-et-orbi-Segen hören und an Weihnachten den Tannenbaum auf dem Petersplatz sehen wollen. Aber die Kirche wird ihre Strahlkraft verlieren. Sie wird als Institution bestehen bleiben, aber die Seele der Menschen wird sie nicht mehr erreichen.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.