Brauchtumsforscher verurteilt Raub indigener Figuren in Rom

"Nicht nur eine Frechheit, sondern auch eine Gemeinheit"

Unbekannte Täter hatten in Rom vier indigene Holzfiguren, die zur Amazonas-Synode mitgebracht wurden, aus einer Kirche geraubt. Handelt es sich bei dabei um heidnische Götzenbilder? Und wie viel Heidentum steckt im Christentum? Eine Einordnung.

Versöhnungsfeier mit Indigenen in Rom / © Stefano Dal Pozzolo (KNA)

DOMRADIO.DE: Im Rahmen eines Gottesdienstes bei der Amazonas-Synode haben Indigene aus Amazonien hölzerne Figuren in die Kirche getragen. Darüber empörten sich Leute in den sozialen Netzwerken, das sei heidnischer Götzenkult. Die Darstellung einer schwangeren Frau ist die von indigenen Kulturen Südamerikas verehrte "Pachamama", die Mutter Erde. Die dort lebenden Christen sehen in ihr jedoch auch eine Parallele zur Muttergottes. Was sagen Sie zur Verehrung dieser Holzfiguren - Christentum oder Götzenkult?

Prof. Manfred Becker-Huberti (Brauchtumsforscher): Das kann man so einfach nicht sagen. Die Frage ist, wie man es sieht und wie man es betrachtet und wie man es einsetzt. Ich kann den Vergleich mit Maria nachvollziehen. Im griechisch-orthodoxen Milieu ist die Krippe eine Höhle. Und in dieser Höhle gebiert Maria den Jesusknaben. Die Erde wird als Geburtsstätte imitiert und die Mutter Erde wird durch eine Göttin im nichtchristlichen Bereich verkörpert. Die Vermischung und Vermengung von diesen Dingen ist bis in die Gegenwart immer wieder und überall zu finden - auch im Christentum -, ohne dass das dezidiert heidnisch sein muss. Wer käme auf die Idee, wenn Maria in einer Höhle gezeigt wird, dass das ein heidnisches Bild wäre? Das muss man sehen wollen. Und so betrachte ich das auch mit diesen Figuren. Die Figuren, die in Rom aufgestellt worden sind, sind nicht zur Verehrung aufgestellt worden, sondern zur Erinnerung. Zur Erinnerung an das eigene Zuhause, an die eigene Identität. Und das halte ich für völlig legitim.

Ich habe mir den Film angesehen, wo sie gezeigt werden. Sie stehen in einer Kirche auf einem Seitenaltar - weit weg vom Hochaltar, weit weg von der Gefahr, verehrt zu werden. Die Menschen, die diese Figuren gestohlen haben - anders kann man das ja nicht nennen - und sie dann vernichten, um darüber zu triumphieren, dass das Christentum das Heidentum besiegt, haben etwas nicht verstanden. Sie haben nicht verstanden, dass man mit Menschen, die anders glauben, anders umgeht. Man wird sie dadurch keinesfalls gewinnen.

Sie haben einfach vorausgesetzt, dass es hier um einen parallen Glauben zum Christentum geht, was es gar nicht sein muss. Es hat ja keine Verehrung dieser Figuren in Rom gegeben. Das darf man nicht einfach unterstellen. Ich finde diesen Diebstahl geschmacklos. Und es ist den Menschen aus Südamerika gegenüber nicht nur eine Frechheit, sondern auch eine Gemeinheit.

DOMRADIO.DE: Der Knackpunkt ist also, ob die indigenen Völker die Figur als Göttin oder als Sinnbild betrachten?

Becker-Huberti: Ja, es ist ein Unterschied, ob ich die Figur als Sinnbild sehe oder ob ich sie als solche verehre und zu einem Idol mache. Das ist hier nicht der Fall, sondern es ist ein Bild dafür, dass wir Teil der Erde sind und dass wir von dieser Erde getragen werden. Und dieser Hinweis darauf, diese Verquickung von Natur und Göttlichkeit, ist etwas, was ich im Christentum wiederfinde. Jede Mahlzeit, die wir am Tisch einnehmen, sollte mit einem Gebet beginnen und enden, weil sie nachweislich so aussieht wie die Eucharistie. Es wird im Profanen das vollzogen, was im sakralen Bereich vorhanden ist. Und wenn man diese Beziehung hat und sieht, dann kann man auch solche Dinge erkennen und annehmen, ohne dass man gleich bösartig darauf reagieren muss.

DOMRADIO.DE: Die Vermischung von heidnischen und christlichen Elementen gibt es ja in verschiedenen Kulturen. Auch bei uns in Mitteleuropa?

Becker-Huberti: Die hat es hier überall gegeben, in vielen Fällen. Die Christen in der Antike zum Beispiel haben sich geweigert Fahnen einzusetzen. Die Fahnen kamen für sie überhaupt nicht in Frage, weil sie ein Erkennungszeichen des Heidentums waren. In den Tempeln hingen Fahnen, bei Prozessionen wurden Fahnen mitgenommen. Erst als Siegeszeichen "Christus ist auferstanden" wurde eine Art Stola um ein Vortragefähnchen gehangen, wie man es vom Militär her kannte. So entwickelte sich im Christentum die Fahne. Zunächst als heidnisch abgelehnt, dann vom Christentum übernommen und anders ausgedeutet.

Man kann Heidentum und Christentum nicht voneinander trennen. Es durchdringt sich an vielen Stellen. Das Christentum deutet neu und deutet um, aber übernimmt auch Formen von anderer Seite. Unser Weihnachtsfest am 25.12. übernimmt den "Sol Invictus" (den Sonnengott, Anm. d. Red.), den die Römer in der Person des Kaisers verehrten: Dieses Symbol der aufgehenden Sonne, das Wiedererstarken des Lichtes, findet sich im Neuen Testament in den Begriffen "Ich bin das Licht der Welt", "Ich bin in die Dunkelheit gekommen". Das sind alles Begriffe, die man mit den symbolischen Formen zusammenbringt und die dann im Christentum weiter ausgelebt werden.

DOMRADIO.DE: Christen in aller Welt sagen: Ihr in Europa schaut viel zu sehr auf euch. Es gibt in der Kirche einen Europazentrismus. Können Sie das unterschreiben?

Becker-Huberti: Das gibt es natürlich in der Tat, weil auch die Theologen im Wesentlichen hier sitzen, hier lernen und lehren. Deshalb wird auch vieles aus diesem Blickwinkel gesehen. Auf der anderen Seite gibt es Blickwinkel, die aber Dinge nicht in der Substanz verändern dürfen. Wenn es sich einpasst und anpasst, ist das völlig okay. Aber wir können nicht plötzlich die Theologie auf den Kopf stellen, nur weil jemand in Alaska etwas anders sieht und Kulturentwicklungen ausbremsen will. Das geht nun auch nicht.

DOMRADIO.DE: Wie viel Inkulturation verträgt unser Glaube und unsere Kirche?

Becker-Huberti: Ich glaube sehr viel mehr, als wir in der Regel meinen. Wenn man die 2000 Jahre des Christentums betrachtet, dann gibt es eine ganze Menge, was plötzlich sehr katholisch ist und vorher sehr unkatholisch war. Ich erinnere nur an den Zölibat. Den Zölibat gibt es seit dem vierten, fünften Jahrhundert. Bis ins elfte Jahrhundert hinein ist er nicht in der Lage gewesen, sich durchzusetzen. Vorher war es anders. Der alte Witz "Wenn wir Priester weihen, dann müssen wir bärtige Fischer vom See Genezareth nehmen, die auch verheiratet sind" versucht zu erklären, dass sich Entwicklungen ergeben und man nicht im Nachhinein eine Entwicklung zurückschrauben und sagen kann: So war es immer gewesen. In der Regel ist es das nämlich nicht.

Das Interview führte Heike Sicconi.


Manfred Becker-Huberti / © Harald Oppitz (KNA)
Quelle:
DR
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