DOMRADIO.DE: Was ist Ihr Eindruck von der Papst-Enzyklika "Fratelli tutti"?
Prof. Ulrich Hemel (Vorstandsvorsitzender des Bundes katholischer Unternehmer / BKU): Das Thema eines guten Zusammenlebens ist für Papst Franziskus ein echtes Herzensanliegen, und das merkt man. Es ist ja in einer emotional warmen Sprache geschrieben. Es versucht Menschen aller Glaubensrichtungen, aller Denkrichtungen mitzunehmen. Es versucht sozusagen auf das globale Gemeinwohl hinzuwirken. Insofern glaube ich schon, dass es ein Zeichen der Ermutigung dafür ist, dass der christliche Glaube uns etwas zu sagen hat, und dafür, dass es von der katholischen Kirche bisweilen auch gute Nachrichten gibt.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet denn der Aufruf zu mehr Geschwisterlichkeit speziell für Unternehmer?
Hemel: In dieser Sprache ist es für Unternehmer nicht von vornherein verständlich, aber jeder gute Unternehmer wird darauf achten, dass es ein gutes Betriebsklima gibt, dass die Menschen sich wohlfühlen, dass sie ihre Leistung sozusagen barrierefrei erbringen können, weil Wertschöpfung und Wertschätzung Hand in Hand gehen.
Wir haben ja heute die Einsicht, dass die Wertschätzung tatsächlich zu einem produktiven Faktor geworden ist, dass es nicht nur für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wichtig ist, sondern eben auch für die Unternehmensleiter, die Geschäftsführer und die Inhaber.
Wir reden ja nicht umsonst von so etwas wie Talent-Management, von Arbeitgeberattraktivität und dergleichen. All das könnten wir auch mit dem Begriff Geschwisterliebe bezeichnen, auch wenn das nicht die Sprache der Betriebswirtschaft und der Unternehmer ist.
DOMRADIO.DE: Papst Franziskus wendet sich in der Enzyklika gegen zu großen Einfluss der Wirtschaft. Auch die Schwächsten sollten in Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse einbezogen werden. Heißt das konkret, die Unternehmenskultur auf den Kopf zu stellen?
Hemel: Das heißt es nicht unbedingt. Wir dürfen nicht vergessen, dass Franziskus die Anschauung von Wirtschaft in seinem Land, in Argentinien, kennengelernt hat. In diesem Umfeld, aber auch in Italien, in vielen anderen Ländern wie auch Deutschland, gibt es natürlich Missbrauch von Unternehmenswerten. Sonst hätten wir nicht einen Wirecard-Untersuchungsausschuss, sonst hätten wir nicht die Skandale jüngst in der Fleischindustrie gehabt, die doch manche überrascht haben. Papst Franziskus sieht hier die kritischen Seiten.
Es gibt aber natürlich auch eine andere Seite. Und wir sollten nicht vergessen: Es gibt in der Zwischenzeit auch das Thema der sogenannten Social Entrepreneurs. Das heißt, die Anwendung einer wirtschaftlichen Effizienz auf soziale Dienstleistungen. Es gibt ein neues Bild der Wirtschaft, wo wir sagen "Der Mensch steht im Mittelpunkt".
Der BKU hat gerade jüngst dazu ein kleines Büchlein von unserem geistlichen Berater Hans Günther Ullrich mit dem Titel "Maßstab Mensch" veröffentlicht. Da gibt es sehr viele Anstrengungen, bei denen ein so traditionelles Bild der Wirtschaft als "Agentur für die Ausbeutung und Selbstausbeutung von Menschen" gar nicht mehr passt. Im Gegenteil: Wer schafft, befähigt heute Menschen, ihr Bestes zu geben und sich einzubringen, jedenfalls dort, wo es einigermaßen funktioniert. Und genau das will der Papst.
DOMRADIO.DE: Das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung sagt, Franziskus wettert hier gegen Märkte und angeblichen Neoliberalismus. Das ist ein System, das es so gar nicht mehr gibt. Können Sie mit der Kritik etwas anfangen?
Hemel: Ich kann mit der Kritik etwas anfangen. Aus der Perspektive Deutschlands mit dem System der Sozialen Marktwirtschaft, also der Verbindung der Suche nach der besten Lösung im Wettbewerb und der Garantie von sozialen Mindeststandards, ist diese Kritik gerechtfertigt.
Aber selbstverständlich haben wir weltweit schon noch gewaltige Zerrbilder, auch von wirklich ausbeuterischer, von menschenfeindlicher Wirtschaft. Denken Sie beispielsweise an die Ethik der Rohstoffe oder die Ethik des Bergbaus. Da haben wir noch gewaltige Dinge vor uns. Wir haben auch immer noch 25 Millionen Kinder in Kinderarbeit, auch wenn das nicht das einzige Thema ist, auf das man Wirtschaft reduzieren darf. Insofern, weltweit gesehen, hat diese Kritik von Papst Franziskus durchaus ihr Recht.
Trotzdem gibt es auch in Deutschland kritische Stimmen, beispielsweise weil er den Begriff des Eigentums relativiert. Aber auch das haben wir in unserem Land an sich ganz gut im öffentlichen Bewusstsein. Wir haben Artikel 14 des Grundgesetzes, bei dem ganz klar festgehalten wird, dass "Eigentum verpflichtet". Eigentum ist nichts, was völlig losgelöst von der Gemeinschaft, von einer Gesellschaft ist.
Gerade wir als BKU kämpfen darum, dass ein neues Bild der Wirtschaft entsteht, weil wir Unternehmer und Unternehmerinnen bei uns vereinigen, die tatsächlich versuchen, mit ihren Unternehmen einen Beitrag zu leisten, sowohl zur Wertschöpfung, wie auch zu einem gelingenden sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Und ich glaube, genau dafür setzt sich der Papst, setzt sich "Fratelli tutti" ein.
Das Interview führte Hilde Regeniter.