DOMRADIO.DE: Die Taliban sind streng gläubige Muslime, aber so kann man es nicht stehen lassen, oder?
Idris Nassery (Islamischer Rechtswissenschaftler am Seminar für islamische Theologie der Universität Paderborn): Ja, das stimmt. Denn es wäre weitaus nötiger, sich konkret mit den Ideologien dieser Terrormiliz auseinanderzusetzen. Wenn man da etwas näher hinschaut, fällt einem schnell auf, dass sie ursprünglich ausgehend von einer Reformbewegung des 19. Jahrhunderts der Deoband-Strömung angehören, die selbst eine sunnitisch hanafitische (Die Hanafiten oder Hanefiten sind eine der vier Rechtsschulen des sunnitischen Islams, Anm. d. Red.) Lehre vermittelt. Ihre Lehren gehen zurück bis ins 12. Jahrhundert.
Von daher ist das zunächst der Ausgangspunkt. Nur hier sind die Komponenten, die die Taliban ausmachen, nochmal ganz andere.
DOMRADIO.DE: Es ist also eine lange Tradition, auf die sie sich berufen. Könnte man sagen, es ist ein mittelalterlicher Islam?
Nassery: Ich glaube, man wird dem Mittelalter Unrecht tun, wenn man sie als mittelalterlichen Islam bezeichnet. Ich denke, das ist weit mehr der Steinzeit zuzuweisen, denn das, was die Taliban als Islam bezeichnen, ist fern von den 1400 Jahren der Tradition. Vor allem in ihrer Lesart sind sie viel mehr bei den Ideologien, die wir vielleicht aus den Kontexten der wahhabitischen (Als Wahhabiten werden die Angehörigen des Wahhabitentums bzw. Anhänger des Wahhabismus, einer puristisch-traditionalistischen Richtung des neuzeitlichen sunnitischen Islam, bezeichnet, Anm. d. Red.) literalistischen Bewegung Saudi-Arabiens und anderer Golfstaaten kennen.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet das denn jetzt für Afghanistan? Es ist ein Vielvölkerstaat. Wie kommt dieser spezielle Glaube in so einer vielschichtigen Bevölkerung an?
Nassery: Das ist eben die große Herausforderung, der sich die Taliban stellen müssen und nach meinem Dafürhalten zum Scheitern verurteilt sind. Denn dieser Vielvölkerstaat hat im Grunde genommen auch aufgrund seiner jahrhundertelangen Tradition des sogenannten mystischen Islams auch einen ganz anderen Zugang zum Islam.
Zwar haben wir eine erhebliche Schicht der Bevölkerung, die einen gewissen Konservatismus lebt, aber in ihrem eigenen kulturellen Format und ihrem eigenen kulturellen Kontext. Wenn die Taliban mit ihrer rauen Gewalt versuchen, nur diese eine Ideologie ihrer durchzusetzen, wird es letztendlich an der Vielfalt und dem pluralistischen, offenen Verständnis des Islams in Afghanistan scheitern.
DOMRADIO.DE: Aber kann es nicht auch so sein, dass sich die afghanische Bevölkerung nach einer einfachen Ordnung sehnt, nachdem sie jetzt so viele Jahre Krieg, Unterdrückung und Unordnung erlebt haben, also dass die Taliban Ordnung nach Afghanistan bringen könnten?
Nassery: Die Taliban waren der Ursprung des Terrors. Sie sind verantwortlich für Hunderte, Tausende Tote. Man darf das dabei nicht außer Acht lassen, dass sie jetzt nunmehr diejenigen sind, die für Ruhe sorgen, nur weil sie sich jetzt als vermeintlich gemäßigt suggerieren. Es sind nach wie vor dieselben Taliban, wie sie 1994 und 1996 Teile von Kabul einnahmen und somit sich das gesamte Land unterjochten.
Sicherlich, das Land sehnt sich gerade in den ländlichen Gebieten nach Ruhe. Aber nach einer Ordnung, wie sie etwa die Taliban in ihrer Ideologie einverleibt haben, sicherlich nicht.
DOMRADIO.DE: Die Taliban als "Taliban light" zu bezeichnen halten Sie für völlig abwegig?
Nassery: Ja, da müssten mir diese Personen, die von "Taliban light" sprechen, erklären, ob sie davon ausgehen, dass die Taliban jetzt die Kalaschnikows zum Kochen benutzen. Deswegen, glaube ich, ist das ein Irrweg von einer Terrorgruppe, die mit Terror ihre Ideologie durchsetzt, als gemäßigt zu sprechen.
Wir haben uns einen gewissen Pragmatismus in den vergangenen Tagen angeeignet, weil wir mit denen ja sprechen müssen. Deswegen müssen wir jetzt von einer neuen Form von Taliban, die wir uns zurechtbacken, ausgehen.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle werden da die Frauen spielen? Können Sie das vorhersehen?
Nassery: Also in Anbetracht der Aussagen der Verlautbarung der Taliban-Sprecher, die man jetzt erstmals zu Gesicht bekommt, werden die Taliban im Rahmen der Scharia, so wie sie sagen, ihren Platz in der Regierung haben. Konkret nachgefragt durch Journalisten konnten die Pressesprecher nicht mehr darauf eingehen, was Scharia nach ihrem Dafürhalten meint. Welcher Platz das ist, wird dann wahrscheinlich von patriarchalen Strukturen und dem wahhabitischen Verständnis des Islams bestimmt.
Das Interview führte Tobias Fricke.