Es geht um die Liebe. Um Sexualität, Ehe, Sehnsucht, Verlust - und nicht zuletzt um deutsche Normalitäten. Der in Köln lebende Schriftsteller Navid Kermani hat mit "Sozusagen Paris" ein neues Buch vorgelegt, das an diesem Montag erscheint. Auch wenn es nicht sein erster Roman ist, in dem es um die Liebe geht - "Große Liebe" von 2014 etwa -, ist der Publizist derzeit eher mit einem anderen Thema in der öffentlichen Diskussion. Könnte Kermani im kommenden Jahr Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten werden?
Moralische Instanz
Immer wieder fällt bei dieser Frage auch sein Name. Jedenfalls gilt Kermani vielen Menschen als moralische Instanz. So stand es erst jüngst in der Jury-Begründung für den Marion Dönhoff Preis, den der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Dezember erhält. Im neuen Buch sagt der Erzähler beziehungsweise der Romanschreiber, dass er auf Podien offenbar eine Souveränität, Heiterkeit, "ja, angeblich sogar Weisheit" auszustrahlen vermöge.
Auch diese Attribute dürften sich viele Menschen für ein deutsches Staatsoberhaupt wünschen.
Hilfreich sind sie auch für einen, der über die Liebe nachdenkt. Im neuen Buch trifft der Erzähler nach 30 Jahren seine Jugendliebe nach einer Lesung in einem Provinzstädtchen. Bei der Frau ist die Rede von Jutta, die schon im Kermani-Roman "Große Liebe" auftaucht. "Für Jutta bin ich sozusagen Paris!", denkt sich der weit gereiste Erzähler - bis er feststellt, dass die Frau Bürgermeisterin des Ortes und auf seinen vermeintlichen Glanz nicht angewiesen ist. Sie löst Probleme wie Mülltrennung und Ampelschaltungen.
Immer wieder Hinweise auf Religionen und Religiöses
Der Autor verbringt in ihrem Wohnzimmer eine Nacht mit zunehmend weinseligeren und von Müdigkeit gezeichneten Gesprächen über ihre schwierige Ehe, Liebe und Sex - zu diesem kommt es zwischen den beiden nicht. Dafür stellt Jutta, die streng religiös erzogen wurde, Thesen auf wie die, dass "Sexualität etwas Göttliches" sei. Ohnehin spart Kermani, der mit "Ungläubiges Staunen" ein vielbeachtetes Buch über Aspekte des Christentums und christliche Kunst geschrieben hat, nicht mit kurzen Hinweisen auf Religionen und Religiöses.
In tausend Banalitäten gefangen
Hinzu kommen weitere Ebenen: Der Erzähler nimmt Juttas Buchregal unter die Lupe, und Kermani zitiert aus diesem Anlass immer wieder Marcel Proust und andere, meist französische Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus schweift er zu seinem Lektor und dem Leser ab, führt mit ihnen Gespräche über den noch zu schreibenden Roman und spricht den Leser direkt an.
Es gebe niemanden, der intelligenter über die Liebe spreche als Proust oder Stendhal, sagt Kermani in einem aktuellen Interview der "Zeit". Angesichts eines Gefälles, das sich zwischen diesem Anspruch und den zuweilen angestrengt und banal wirkenden Äußerungen Juttas auftut, erklärt Kermani weiter: "Ich kann nur sagen, dass ich selbst diesen Widerspruch Tag für Tag lebe. Und zwar oft in derselben Minute. Ich lese oder erlebe die erhabensten Dinge und bin zugleich in tausend Banalitäten gefangen." Das angesprochene Gefälle bringe den Menschen "in Liebesdingen ins Schlingern" und konstituiere den Roman.
Geachteter Gesprächspartner
Darin verweist Kermani in Andeutungen auch auf die Flüchtlingsfrage, auf Integration, Fremdheit und die Öffnung deutscher Grenzen für Schutzsuchende vor einem Jahr. Dem Leser fällt Kermanis hochgelobte Rede zu 65 Jahren Grundgesetz vor zwei Jahren ein: Er sagte darin, dass Deutschland eine Nation sei, "die den Fremden lieber eine Spur zu freundlich, zu arglos begegnet, als jemals wieder der Fremdenfeindlichkeit, der Überheblichkeit zu verfallen".
Der Orientalist ist ein geachteter Ansprechpartner zu den Themen Religion, Kultur und Integration geworden. In "Ungläubiges Staunen" hat er sich kenntnisreich mit dem Christentum auseinandergesetzt. Ist aber ein Muslim als deutsches Staatsoberhaupt derzeit denkbar? Jüngst hatte dies etwa die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor verneint. Und Kermani? Gibt sich zugeknöpft. Auf die Frage im "Zeit"-Interview, ob es für ihn denkbar sei, sich zum Kandidaten küren zu lassen, sagt er
knapp: "Ich möchte nicht auf Fragen antworten, die sich nicht stellen."