7. Kapitel: Der Prozess Jesu
(...) Wer eigentlich waren genau die Ankläger? Wer hat auf die
Verurteilung Jesu zum Tode bestanden? (...) Nach dem Evangelisten
Johannes sind es einfach die "Juden". Aber dieser Ausdruck besagt im
Johannes-Evangelium keinesfalls - wie der moderne Leser
interpretieren könnte - das Volk von Israel als solches, noch
weniger hat es einen "rassistischen" Charakter. Schließlich war
Johannes, was seine Nationalität betrifft, Israelit, ebenso wie
Jesus und all die Seinen. Die gesamte ursprüngliche Gemeinde bestand
aus Juden. Bei Johannes hat dieser Ausdruck eine präzise und streng
eingegrenzte Bedeutung: Er bezeichnet damit die Tempelaristokratie.
So ist im vierten Evangelium der Kreis der Ankläger, die den Tod
Jesu fordern, klar begrenzt: Es handelt sich, in der Tat, um die
Tempelaristokratie, aber auch diese nicht ohne Ausnahme, wie der
Hinweis auf Nikodemus zu verstehen gibt.
Bei Markus erscheint im Kontext der Pessach-Amnestie (Barabbas oder
Jesus) der Kreis der Ankläger erweitert: Es erscheint der "ochlos"
und votiert für die Freilassung des Barabbas. "Ochlos" bedeutet
einfach eine Menge von Menschen, die "Masse".
Nicht selten hat das Wort einen negativen Beigeschmack im Sinn von
"Pöbel". Auf jeden Fall ist damit nicht "das Volk" der Juden als
solches gemeint. (...) Was diese "Masse" betrifft, handelt es sich
um die Unterstützer des Barabbas, die für die Amnestie mobilisiert
wurden. Da er sich gegen die römische Herrschaft wandte, konnten
seine Unterstützer natürlich mit einer bestimmten Zahl von
Sympathisanten rechnen. Es waren also die Anhänger des Barabbas
anwesend, die "Masse", während die Anhänger Jesus sich aus Angst
verborgen hielten. Daher war die Stimme des Volkes, auf die das
römische Recht gründete, einseitig präsent.
Bei Matthäus (27,25) findet man eine Ausweitung des "ochlos" von
Markus, die in ihren Konsequenzen fatal ist, und die stattdessen vom
"ganzen Volk" spricht, und ihm die Forderung nach der Kreuzigung
Jesu zuschreibt. Damit äußert Matthäus sicher keine historische
Tatsache: Wie hätte das ganze Volk in einem Moment versammelt sein
können, um den Tod Jesu zu fordern? Die historische Realität
erscheint in gesicherter Weise bei Johannes und Markus. (...)
Was ist Wahrheit? Die Frage des Pragmatikers, oberflächlich mit
einer gewissen Skepsis gestellt, ist eine sehr ernste Frage, in der
effektiv das Geschick der Menschheit auf dem Spiel steht. (...)
"Für die Wahrheit Zeugnis geben" bedeutet, Gott und seinen Willen
den Interessen der Welt und ihren Mächten gegenüber hervorzuheben.
Gott ist das Maß des Seins. In diesem Sinn ist die Wahrheit der
echte "König", der allen Dingen ihr Licht und ihre Großartigkeit
gibt. Wir können auch sagen, Zeugnis für die Wahrheit zu geben
bedeutet, von Gott als der kreativen Vernunft ausgehend die
Schöpfung zu dechiffrieren und ihre Wahrheit in einer Weise
zugänglich zu machen, dass sie Maß und orientierendes Kriterium in
der Welt des Menschen sein kann - die den Großen und Mächtigen die
Macht der Wahrheit, das gemeinsame Recht, das Recht der Wahrheit
entgegensetzt.
Sagen wir es ruhig: Das Nicht-Erlöstsein der Welt besteht genau in
dieser Nicht-Dechiffierbarkeit der Schöpfung, in der
Nicht-Erkennbarkeit der Wahrheit, eine Situation, die dann
unvermeidlich zur Herrschaft des Pragmatismus führt. Und das dann
dazu beiträgt, dass die Macht der Starken zum Gott der Welt wird.
An dieser Stelle sind wir als moderne Menschen versucht zu sagen:
"Dank der Wissenschaft ist für uns die Schöpfung dechiffrierbar
geworden." (...) In der Tat, in der großartigen Mathematik der
Schöpfung, die wir heute im genetischen Code des Menschen lesen
können, verstehen wir die Sprache Gottes. Aber leider nicht die
ganze Sprache. Die funktionale Wahrheit über ihn selbst ist sichtbar
geworden. Aber die Wahrheit über ihn selbst - wer er ist, woher er
kommt, was der Zweck seiner Existenz ist, was das Gute oder das Böse
ist - die kann man leider auf diese Weise nicht lesen. Mit dem
wachsenden Bewusstsein der funktionalen Wahrheit scheint vielmehr
eine wachsende Erblindung für "die Wahrheit" selbst Hand in Hand zu
gehen - für die Frage nach dem, was unsere echte Realität und unser
echter Zweck ist. (...)
5. Kapitel: Das Letzte Abendmahl
Aber was war nun tatsächlich das Letzte Abendmahl Jesu? Und wie
gelangte man zum zweifellos alten Konzept des Pessach-Charakters?
(...) Jesus wusste um seinen bevorstehenden Tod. Er wusste, dass er
nicht mehr das Pessach essen würde. In diesem klaren Bewusstsein lud
er seine Jünger zu einem letzten Mahl von ganz besonderem Charakter
ein, zu einem Mahl, das nicht zu irgendeinem bestimmten jüdischen
Charakter gehörte, sondern das sein Abschied war, in dem er etwas
Neues gab: er schenkte sich selbst als wahres Lamm, indem er so s e
i n Pessach begründete. (...)
Eine Sache ist bedeutend in dieser gesamten Tradition: Das
Wesentliche dieses Abschiedsmahles war nicht das antike Pascha,
sondern das Neue, das Jesus in diesem Kontext realisierte. Auch wenn
dieses Zusammensein Jesu mit den Zwölfen kein Pessach-Mahl nach den
rituellen jüdischen Vorschriften war, so wurde im Rückblick der
innere Zusammenhang mit dem Tod und der Auferstehung Jesu deutlich:
Es war das Pessach Jesu. Er hat Pessach gefeiert und er hat es
gleichzeitig nicht gefeiert: die alten Riten konnten nicht
praktiziert werden; denn als ihr Moment kam, war Jesus schon tot.
Aber er hat sich selbst geschenkt, und so hat er mit ihnen wirklich
Pessach gefeiert. In diesem Sinn wurde das alte nicht geleugnet,
sondern wurde so zu seinem vollen Sinn gebracht. (...)
Papst Benedikt XVI. über den Prozess Jesu
"Nicht 'das Volk' der Juden"
Am 10. März erscheint der zweite Teil des auf drei Bände angelegten Werks "Jesus von Nazareth" von Papst Benedikt XVI. Er legt seine Darstellung der Gestalt Jesu in den Evangelien auch unter seinem bürgerlichen Namen Joseph Ratzinger und als Theologe vor und behandelt darin die Ereignisse vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung. Der Vatikan veröffentlichte am Mittwoch einige Passagen vorab, die die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) in eigener Übersetzung auszugsweise dokumentiert:

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