Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Herr Erzbischof Zenari, wie sehr schränkt der Krieg Ihre Arbeit ein?
Erzbischof Mario Zenari (Apostolischer Nuntius in Syrien): Derzeit ist es schwierig. Ich habe einige Male Homs, die Küstengebiete und das Tal der Christen besuchen können sowie vor Kurzem Palmyra. Ich hoffe, dass ich demnächst nach Aleppo reisen kann. Aber als Diplomat benötige ich dazu eine Genehmigung. Die Regierung hilft, wo immer es möglich ist, aber durch den Krieg sind Grenzen gesetzt.
KNA: Haben Sie Informationen über die gegenwärtige Lage in Aleppo?
Erzbischof Zenari: Die Lage ist katastrophal. Bis vor Kurzem hatten wir eine sehr dynamische christliche Präsenz in Aleppo, jetzt verlassen viele Christen die Stadt. Von den vor drei Jahren verschwundenen Bischöfen wissen wir bis heute nichts. Ebenso fehlt jede Spur von weiteren entführten Geistlichen.
KNA: Ist dieser Krieg noch zu verstehen?
Erzbischof Zenari: Ich habe den Konflikt vom ersten Tag bis heute mitverfolgt. Er entwickelt sich täglich. Niemand konnte sich anfangs vorstellen, dass es so weit geht. Der Konflikt begann als ein Kampf für mehr Freiheiten, den das Regime zu unterdrücken versuchte. Auf diesen Konflikt hat sich ein anderer Krieg gelegt, ferngesteuert von anderen Mächten. Es ist kein syrischer Bürgerkrieg mehr, sondern ein "globalisierter Bürgerkrieg". Auf syrischem Boden kämpfen derzeit Fundamentalisten aus 85 Ländern, auch aus Europa.
KNA: Was bedeutet das für die Menschen?
Erzbischof Zenari: Das Leiden in Syrien ist universal, es trifft alle, Sunniten, Alawiten, Drusen... Das größte Risiko tragen die Minderheiten, und unter ihnen als erste die Christen, die im Gegensatz zu anderen Gruppen unbewaffnet sind. Im ersten Jahr hatten die Christen noch keine sonderlichen Schwierigkeiten. Als mit dem zweiten Kriegsjahr ausländische Kämpfer aus allen möglichen Ländern kamen, haben sie begonnen, die Christen zu attackieren. Selbst unter den syrischen Rebellen gab es noch Respekt, weil es in Syrien ein Wissen um die Christen gibt. Die ausländischen Kämpfer wissen nichts. Mit ihnen kamen Gewalt und Zerstörung. Mit jedem Jahr sehen wir eine Eskalation. Den hohen Preis zahlen die unschuldigen Bürger, die sich zwischen den Fronten wiederfinden.
KNA: Wie sieht dieser Preis aus?
Erzbischof Zenari: Chemiewaffen haben mehr als 1.500 Tote gefordert, ganze Orte werden ausgehungert, in Aleppo waren die Menschen im Sommer von der Wasserversorgung abgeschnitten, Krankenhäuser und Schulen wurden zerbombt. Dieses Leiden dürfen wir nicht hinnehmen. Der Krieg hat seine eigenen Regeln. Aber auch die wurden in Syrien gebrochen. Das internationale Recht und die Menschenrechte werden ungestraft mit Füßen getreten.
KNA: Sind die Christen enttäuscht vom Westen?
Erzbischof Zenari: Die Christen hier sind grundsätzlich eher kritisch gegenüber bestimmten Mächten. Aber sie erwarteten sich mehr Schutz und Hilfe. Sie kritisieren den christlichen Okzident und dass er nicht genug getan habe, um den Fundamentalismus zu stoppen und Menschenrechte und Demokratie in Syrien zu fördern. Gleichzeitig findet ein Exodus von Christen statt.
KNA: Wie viele Christen gibt es in Syrien?
Erzbischof Zenari: Vor dem Krieg haben wir die Zahlen mit zehn Prozent angegeben, auch wenn es vielleicht nur fünf bis sechs Prozent waren. Von ihnen sind die Hälfte, wenn nicht mehr, ausgewandert. Tragisch ist, dass die historischen Kirchen des Orients diese Leute verlieren. Sie verstreuen sich über alle Welt und werden früher oder später absorbiert. Die orientalischen Kirchen haben eine glorreiche Geschichte, die verloren geht, wenn ihre Gläubigen abwandern. Die Gefahr ist, dass wir hier diesen Reichtum an einheimischen Christen verlieren.
KNA: Damit nimmt auch das religiöse Mosaik Syriens einen Schaden.
Erzbischof Zenari: In Syrien gab es immer ein gutes Klima des interreligiösen Zusammenlebens. Nach mehr als fünf Jahren Krieg ist dieses Mosaik nicht zerstört, aber beschädigt. Ich hoffe, dass die Schäden reparabel sind. Hier kommt den Religionsführern eine große Verantwortung zu. Zerstörte Häuser kann man wieder aufbauen. Die Zerstörungen in den Seelen sind sehr viel schwieriger zu heilen. Dieser Krieg trifft nicht irgendein Land, sondern den Leitstern der Region, ein Kulturland mit einem enormen Erbe. Sollte Syrien zerstört werden, wird die ganze Welt dafür den Preis zahlen.
KNA: Was macht die Besonderheit Syriens aus?
Erzbiscof Zenari: Die syrische Regierung tendierte zur Laizität. Christen genossen große Freiheiten, fast könnte man von Gewissensfreiheit sprechen. Die Regierung, die auf einer Allianz der Minderheiten basierte, war gut für die Christen. Es ist schwer zu sagen, ob Christen hier eines Tages wieder diese Freiheiten haben werden.
KNA: Werden sie nach Syrien zurückkehren?
Erzbischof Zenari: Wenn wir wollen, dass die Christen zurückkehren, muss die Regierung große Anstrengungen unternehmen. Christen in Ländern mit großer muslimischer Mehrheit fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. Solange das so ist, werden sie nicht wiederkommen. Das heißt, früher oder später muss es eine Trennung zwischen Staat und Religion geben, muss ein Rechtsstaat entstehen, in dem alle Bürger gleich sind vor dem Gesetz. Syrien war auf dem Weg dahin, und die Regierung hatte eine Wertschätzung für die Christen, die das Fenster zur Welt waren. Deswegen ist der Exodus der Christen ein Drama für das Land.