"Franziskus streckt hier die Arme ganz offen aus", so kommentiert domradio.de-Redakteur Jan Hendrik Stens das Schreiben von Papst Franziskus zum Heiligen Jahr. Das Schreiben von Dienstag ist an den Präsidenten des Päpstlichen Rats zur Förderung der Neuevangelisierung, Erzbischof Rino Fisichella, gerichtet.
Rund 100 Tage vor Öffnung der Heiligen Pforte am 8. Dezember im Petersdom stimmt Papst Franziskus die Gläubigen auf seine Kernanliegen von Barmherzigkeit und Verzeihen ein.
Heiliges Jahr auch für Strafgefangene
Das Heilige Jahr dürfe sich nicht auf Rom und Rom-Pilger beschränken. Es müsse zu einem Erlebnis auch für Christen in Ausnahmesituationen werden, etwa für Kranke oder für Strafgefangene, so der Papst. Der Ablass, der mit einer Prozession durch die Heilige Pforte verbunden ist, kann folglich nicht nur in den vier römischen Papstkirchen, sondern auch in allen Kathedralen der Welt, in Wallfahrtszentren und besonderen Kirchen empfangen werden. Kranke können am Heiligen Jahr über die Medien teilnehmen, und Häftlinge können einen Ablass in den Gefängniskapellen erlangen und in ihrer Zelle im Gebet mitvollziehen.
"Den Ablass werden sie erlangen können in den Gefängniskapellen und jedes Mal, wenn sie durch die Tür ihrer Zelle gehen und dabei ihre Gedanken und ihr Gebet an Gottvater richten", schreibt Papst Franziskus. "Möge diese Geste für sie den Durchgang durch die Heilige Pforte bedeuten, denn die Barmherzigkeit Gottes, die in der Lage ist, die Herzen zu verwandeln, kann auch die Gitter in eine Erfahrung der Freiheit verwandeln."
Beichte auch bei Piusbrüdern
Für besonderes Aufsehen sorgte das Zugehen des Papstes auf die traditionalistischen Piusbrüder. Im Vertrauen, dass "in naher Zukunft" Lösungen für eine volle Einheit erreicht würden, erlaubte er für die Dauer des Jubiläumsjahres das Beichten bei Priestern der Piusbrüder. Dort gehaltene Beichten und Eheassistenzen waren bislang mangels erteilter kirchlicher Vollmacht ungültig. Wer während des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit das Sakrament der Versöhnung bei deren Priestern empfange, erlange gültig und erlaubt die Lossprechung von seinen Sünden.
Das ist ein großes Entgegenkommen für eine Vereinigung, deren Sakramente kirchenrechtlich bislang zwar gültig, jedoch "nicht erlaubt" und damit illegal waren. Nun erklärt der Papst aus pastoralem Bemühen diese Beichthandlungen für erlaubt. Konkrete Hinweise auf Fortschritte im theologischen Dialog und im Annäherungsprozess zwischen dem Vatikan und den Traditionalisten gibt es derzeit nicht. Doch schon bei Pressekonferenzen hatte Franziskus wiederholt den Wunsch und die Hoffnung geäußert, dass die seit 1988 bestehende Spaltung überwunden werde.
"Jetzt bin ich mal gespannt, was von Seiten der Piusbruderschaft kommt", sagt Jan Hendrik Stens. Immerhin seien die Pforten in Rom stärker geöffnet als sie es bislang je waren. "Im Gegensatz zu Benedikt XVI. hat Franziskus hier erstmal keine Bedingungen gestellt", so Stens.
Denn Franziskus setzt auf eine pastorale Linie - anders als sein Vorgänger Benedikt XVI., der in einem theologischen Disput eine dogmatische Annäherung über die Gültigkeit des Konzils und des kirchlichen Lehramts erreichen wollte. Schon seit Franziskus' Amtsantritt war nicht mehr von einer Frist die Rede, in der die Piusbrüder die vorgelegte "lehrmäßige Präambel" akzeptieren sollten - mit dem Wink, dass eine Weigerung den endgültigen Bruch bedeuten könnte. Nun muss sich zeigen, ob diese zeitlich befristete Geste des Papstes festgefahrene Positionen und Frontlinien aufweicht.
Aussöhnung nach Abtreibung
Und noch eine weitere Überraschung enthält das Papstschreiben an den Heilig-Jahr-Organisator, Kurienerzbischof Rino Fisichella: Er erteilte allen Priestern die Vollmacht, im Jubiläumsjahr auch im Fall von Abtreibungen die Absolution zu erteilen. "Abtreibung ist laut Kirchenrecht eine große Sünde und sieht die Exkommunikation vor", erklärt Jan Hendrik Stens.
"Was geschehen ist, ist zutiefst ungerecht. Und doch: Nur wenn man es in seiner Wahrheit versteht, ist es möglich, die Hoffnung nicht zu verlieren. Die Vergebung Gottes für jeden Menschen, der bereut, kann diesem nicht versagt werden, besonders wenn er mit ehrlichem und aufrichtigem Herzen das Sakrament der Vergebung empfangen will, um Versöhnung mit dem Vater zu erlangen", schreibt Papst Franziskus.
Gerade in vielen lateinamerikanischen Ländern könnten Frauen, die eine Abtreibung bereuen, nicht einfach davon losgesprochen werden. Sie müssen sich bislang für die Lossprechung dieser schweren Sünde an dafür bevollmächtigte Personen wenden. Dabei ist vom Nachlass der Strafe, dessen Kompetenz beim Bischof und seinem Vertreter liegt und der eigentlichen Lossprechung, die immer durch einen Priester in der Beichte erfolgt, zu unterscheiden.
Für die Betroffenen stellt das päpstliche Schreiben eine große Erleichterung da. In Deutschland ist die Situation eine andere. Hier haben die Bischöfe der meisten Diözesen diese Vollmacht generell ihren Priestern anvertraut. Doch Papst Franziskus ermahnt Priester mit seinem Schreiben, ihre Aufgabe gewissenhaft wahrzunehmen: "Die Priester mögen sich auf diese große Aufgabe vorbereiten und Worte der echten Annahme mit einer Reflexion zu verbinden wissen, die hilft, die begangene Sünde zu begreifen."
Seelsorger Franziskus
Mit dem Schreiben solle in keiner Weise die Schwere der Sünde der Abtreibung relativiert oder verharmlost werden, die den Eltern sowie den an einem Abbruch beteiligten Medizinern und Helfern die Exkommunikation bringt, so der Papst. Vielmehr wolle die Kirche die Möglichkeiten erweitern und möglichst vielen Betroffenen eine Aussöhnung nach einer solchen Tat anbieten. Bereits Papst Johannes Paul II. hat 1995 in seiner Enzyklika Evangelium Vitae darauf hingewiesen, die Kirche wisse, dass es sich bei Abtreibung "in vielen Fällen um eine leidvolle, vielleicht dramatische Entscheidung" gehandelt habe. Der "Vater des Erbarmens" warte auf die betroffenen Frauen, um ihnen "im Sakrament der Versöhnung seine Vergebung und seinen Frieden anzubieten".
"Papst Franziskus will, dass möglichst alle an diesem Heiligen Jahr teilnehmen können", sagt Jan Hendrik Stens. "Franziskus ist nicht der Theologe auf dem Stuhl Petri, sondern der Seelsorger. Er zeigt uns Europäern mit seiner lateinamerikanischen Sichtweise andere Perspektiven als die gewohnten."