Es gibt mächtige Staatsmänner, die sich das nicht trauen, weil sie die Türkei nicht verprellen wollen. Papst Franziskus hat es sich getraut: In einem Gottesdienst zum 100. Jahrestag des Beginns der Verfolgung der Armenier während des Ersten Weltkriegs sprach er am Sonntag vom "ersten Genozid des 20. Jahrhunderts". Damit hat er zwar die Mehrheit der Historiker auf seiner Seite - aber Ankara gegen sich. Franziskus dürfte sehr wohl bewusst gewesen sein, dass er sich Proteste von türkischer Seite einhandeln wird. Denn diesmal äußerte er sich nicht spontan, sondern las einen vorbereiteten und vom Vatikan zuvor veröffentlichten Redetext vor.
"Die Menschheit hat im vergangenen Jahrhundert drei große, unerhörte Tragödien erlebt: die erste, die allgemein als 'der erste Genozid des 20. Jahrhunderts' angesehen wird; diese hat euer armenisches Volk getroffen", sagte der Papst in seinem Grußwort an die armenischen Gäste. Unter ihnen waren der armenische Staatspräsident Sersch Sargsjan sowie die Oberhäupter der armenisch-apostolischen und der armenisch-katholischen Kirche, die Patriarchen Karekin II. und Nerses Bedros XIX.
Franziskus stellte die Verfolgung der Armenier in eine Reihe mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und des Stalinismus. Durch Massaker und Todesmärsche kamen zwischen 1915 und 1917 laut Schätzungen bis zu 1,5 Millionen Armenier ums Leben.
Franziskus zitierte Johannes Paul II.
Es war ein geschickter Schachzug von Franziskus, dass er ausdrücklich Johannes Paul II. (1978-2005) zitierte. Der polnische Papst, der den Völkermord an den Juden miterlebt hatte, bekundete 2001 während seiner Armenien-Reise in einer gemeinsamen Erklärung mit dem Oberhaupt der Armenisch-Apostolischen Kirche, Karekin II.: "Die Ermordung von eineinhalb Millionen Christen ist das, was generell als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird." Franziskus zitierte also nur seinen Vorgänger. Die Türkei hält das von Protest nicht ab.
Nach der Aussage von Papst Franziskus zum Völkermord an den Armeniern hat die türkische Regierung am Sonntag den Vatikanbotschafter in Ankara ins Außenministerium einbestellt. Dort sollte dem Nuntius Erzbischof Antonio Lucibello der offizielle Protest der Türkei gegen die Äußerung zum Ausdruck gebracht werden, berichteten türkische Medien. Zugleich arbeite die Regierung in Ankara an einer schriftlichen Reaktion, die aller Voraussicht nach "scharf" ausfallen werde.
Nicht das erste Mal Protest der Türkei gegen Papst-Äußerungen
Wie empfindlich man in Ankara reagiert, wenn ein Papst vom "Völkermord" an den Armeniern spricht, hat Franziskus selbst bereits kurz nach seinem Amtsantritt erfahren. Als er die Gräueltaten an den Armeniern Anfang Juni 2013 in einem privaten Gespräch mit Nachfahren von Opfern der Massaker, das später publik wurde, schon einmal als "ersten Genozid des 20. Jahrhunderts" bezeichnet hatte, protestierte die Türkei offiziell. "Absolut inakzeptabel" sei diese Äußerung, hieß es in einer Erklärung des Außenministeriums in Ankara. Der Vatikanbotschafter wurde zu einem Gespräch einbestellt. Schon als Erzbischof von Buenos Aires hatte der heutige Papst keinen Hehl daraus gemacht, dass er die Verfolgung der Armenier als Völkermord betrachtet.
Bei seiner Türkei-Reise im November hatte Franziskus die Verfolgung der Armenier nicht angesprochen. Auf dem Rückflug nach Rom sandte er jedoch ein versöhnliches Signal an die türkische Regierung aus. Er würdigte einen Brief des vormaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, in dem dieser 2014 als erster Regierungschef in der türkischen Geschichte offiziell der damaligen Leiden der armenischen und syrisch-orthodoxen Christen gedachte. Einige hätten diese Erklärung als "schwach" angesehen, so Franziskus. Er selbst wisse nicht, ob sie "stark oder schwach" sei. In jedem Fall bedeute sie aber eine "ausgestreckte Hand" der türkischen Regierung - und das sei "immer positiv".
Erhebung eines armenischen Mönchs zum Kirchenlehrer
Auch die Erhebung des armenischen Mönchs Gregor von Narek (950- ca. 1005) zum Kirchenlehrer stand am Sonntag im Zeichen des Völkermords an den Armeniern. Der Präfekt der Heiligsprechungskongregation, Kardinal Angelo Amato, wies während der Zeremonie ausdrücklich darauf hin, dass das Kloster, in dem Gregor in Narek lebte, sowie dessen Grab im Zuge der Massaker an den Armeniern zerstört worden seien.
Zum Abschluss des Gottesdienstes hatten schließlich die beiden armenischen Patriarchen das Wort. Der Völkermord an den Armeniern sei eine "unleugbare historische Tatsache", sagte Karekin II. - und erntete Applaus im Petersdom.
Am 24. April jährt sich der Beginn der Armenier-Massaker im damaligen Osmanischen Reich 1915. Die Türkei lehnt die Einstufung der Verbrechen als Völkermord ab und wirft Armenien vor, den Jahrestag für eine Kampagne zur internationalen Anerkennung des Genozids nutzen zu wollen.