Papst plädiert für ganzheitliche Entwicklung des Menschen - Kurienkardinal Cordes im Interview

Entwurf für eine neue Weltordnung

18 Jahre sind es her, seit sich ein Papst in einer Enzyklika zur sozialen Lage der Welt und der Menschheit geäußert hat. Eine lange Zeit angesichts des rasanten Fortschritts, der Auflösung der Blöcke, des medialen Zusammenrückens und der Globalisierung mit ihren weltweiten wechselseitigen Abhängigkeiten. Pünktlich zum G-8-Gipfel hat Papst Benedikt XVI. jetzt eine Fortschreibung der katholischen Soziallehre vorgelegt. "Caritas in veritate" lautet der Titel des 142 Seiten umfassenden Dokuments zur "ganzheitlichen Entwicklung des Menschen in der Liebe und in der Wahrheit".

Autor/in:
Johannes Schidelko
 (DR)

Überraschend konkret geht Benedikt XVI. auf die Verzerrungen und Missstände in den Wirtschafts- und Finanzsystemen ein. Der Theologen-Papst, der sich sonst eher mit abstrakten Glaubenswahrheiten befasst, äußert sich zum Skandal des Hungers und zum wachsenden Graben zwischen Arm und Reich. Er spricht von einer neuen Klasse kosmopolitischer Manager, die sich oft nur nach den Anweisungen der Hauptaktionäre richteten; hinter ihnen rücke der klassische Unternehmer in den Hintergrund. Er behandelt die vielen Facetten des Umweltschutzes, der letztlich immer vor allem Menschen- und Lebensschutz sein muss - wie seine Warnung vor Abtreibung, Euthanasie und eugenischer Geburtskontrolle deutlich macht. Er spricht über das Recht auf Arbeit, das Grundrecht auf Nahrungsmittel und den Zugang zu Wasser. Er äußert sich zu neuer Armut und zu einer Schwächung der sozialen Netze, zu Terrorismus und Gewalt im Namen von Religionen. Er beklagt die Auslagerung von Arbeitsplätzen und den Kapitaltransfer ins Ausland, der allein zur Profitoptimierung diene und der jeweiligen Bevölkerung Schaden zufüge.

Technische Patentrezepte für die neuen Herausforderungen und Bedrohungen nennt die Enzyklika nicht. Die Kirche habe vielmehr eine "Mission der Wahrheit zu erfüllen", so der Papst. Da sie sich für das Wohl des Einzelnen und aller Menschen, für Gerechtigkeit, Solidarität und Subsidiarität einsetzen wolle, wende sie sich entschieden gegen einen Markt, der als ein bloßes Forum privater Interessen der Logik der Macht diene - mit zersetzenden Folgen für die Gesellschaft.

Die zentrale Botschaft der Enzyklika lautet: Die Wirtschaft braucht für ihr korrektes Funktionieren die Ethik. Eine Ethik, die den Menschen und sein Wohl in den Mittelpunkt rückt und die die Welt und den Menschen auf die Transzendenz hin offen sieht. Benedikt XVI. setzt dabei auf ein eigenes Begründungssystem. Anders als Johannes Paul II., der zwischen 1981 und 1991 drei Sozialenzykliken veröffentlichte, beginnt er nicht beim Personalismus. Er argumentiert theologisch-philosophisch, leitet seine Argumentation aus Wahrheit und Liebe, aber auch aus der Dreifaltigkeit her.

Mit "Caritas in veritate" hat Benedikt XVI. die katholische Soziallehre für das Zeitalter der Globalisierung aktualisiert. Er hat einen ausführlichen, anspruchsvollen, über weite Strecken auch abstrakten Text vorgelegt, mit dem sich nun die Experten befassen werden. Dabei hat der Papst selbst bereits den Rat vieler Fachleute eingeholt - was sicher auch manche Doppelungen im Text erklärt. Zur Steuerung der Globalisierung schlägt das Kirchenoberhaupt nicht weniger vor als eine weltweite Steuerungsinstanz, in Überarbeitung der Statuten der Vereinten Nationen. Ein Vorschlag, mit dem er vielleicht für den G-8-Gipfel in L'Aquila, wo ab Mittwoch Macht und Elend unmittelbar zusammentreffen, ganz sicher aber für den ersten Vatikanbesuch von US-Präsident Barack Obama am Freitag für Gesprächsstoff sorgt.