Die Beratungen von Papst Franziskus über den Missbrauchsskandal in Chile sind vorerst abgeschlossen. Eine dritte Gruppe – sieben Priester und zwei Laien, nachdem er sich vorher mit Opfern und Bischöfen getroffen hatte – reiste am Montag zurück. Jetzt werden Konsequenzen erwartet. Dieser "synodale Prozess", wie es der Vatikan nennt, ist ein beispielloser Vorgang; doch die eigentliche Sensation steckt in einem Brief, den Franziskus an die Katholiken Chiles gerichtet hat.
Als Kern des Problems nennt das achtseitige Schreiben nicht die Moral, sondern die Macht. Die Reform, die der Papst verlangt, hätte unabsehbare Folgen für die Gestalt der Kirche.
Weg des Papstes: Reform von unten nach oben
Um den Sprung zu ermessen, muss man sich den letzten vergleichbaren Fall 2010 vor Augen halten: Als Benedikt XVI. nach dem Missbrauchsskandal in Irland aufräumen wollte, warnte Kardinaldekan Angelo Sodano davor, sich vom "Geschwätz des Augenblicks" irre machen zu lassen. Die Vatikanzeitung "Osservatore Romano" sprach im Blick auf allgemeine Schuldzuweisungen von einer "Diffamierungskampagne".
Für die Überwindung der Krise setzte Benedikt XVI. auf die Führungselite: Er sei zuversichtlich, dass die Bischöfe jetzt "in einer stärkeren Position" seien, um die Behebung des Unrechts voranzubringen, schrieb er an die irischen Katholiken. Er beschwor den "festen Glauben, die starke Führung und die aufrechte Moral" vergangener Zeiten; die Bischöfe hielt er an, genauer auf das geistliche und moralische Leben ihrer Priester zu schauen. Auch Missbrauchsleitlinien und eine strengere Auswahl von Priesteramtskandidaten sollten helfen.
Eine solche Reform von oben nach unten ist nicht der Weg von Franziskus; das zeigen schon seine drei Krisentreffen: Die Opfer bat er um Analysen und Lösungsvorschläge, den – teils selbst missbrauchten – Priestern sprach er Mut zu, die Bischöfe unterzog er einer Gewissensprüfung. "Die Erneuerung der kirchlichen Hierarchie für sich bringt nicht den Wandel, zu dem der Heilige Geist uns treibt", schreibt der Papst an die chilenischen Gläubigen. Er will eine "synodalere, prophetischere" Kirche.
"Ursünde" der Kirche: Ausgrenzung und Verrat
Der Missbrauchsskandal ist für Franziskus ein Fanal, das die Ursünde der Kirche offenbart: Ausgrenzung und Elitenbildung. Immer wenn das Gottesvolk in seiner Weite und Vielfalt unbeachtet blieb, führte dies nach dem Urteil des Papstes zu gesichts- und leblosen Strukturen und Theologien, zu einer "Perversion" der Kirche.
Eine aktive Teilhabe aller Getauften – so seine Lehre aus dem sexuellen Missbrauch, den er stets in Zusammenhang mit psychologischem Zwang und Machtmissbrauch sieht – ist daher "keine Frage gutwilliger Zugeständnisse, sondern konstitutiv für das Wesen der Kirche".
So bittet, drängt, mahnt Franziskus die Gläubigen, "Akteure des Wandels" zu werden. Ein "'Nie wieder' für die Kultur des Missbrauchs wie auch das System der Vertuschung" verlangt nach seinen Worten neue Formen des Umgangs, auch des Umgangs mit Autorität. Die Kirche müsse ein Raum sein, in dem man "Kritik und Hinterfragen nicht mit Verrat verwechselt"; ein "Hauptversagen" nennt es der Papst, den Opfern so lange kein Gehör geschenkt zu haben.
"Wo zweifeln nötig ist und wo nicht"
Missbrauch in allen Formen, betont Franziskus, widerspricht der Freiheit des Evangeliums. Auch in Glaubensdingen gelte es daher zu lernen, "wo zweifeln nötig ist und wo nicht". Der Papst propagiert eine offene, diskussionsfähige, weniger selbstgewisse Kirche, die sich befreit von "Vorspiegelungen, die Leben versprechen, aber letztlich die Kultur des Missbrauchs begünstigen" – starke Worte für den obersten Lehrer der katholischen Kirche.
Von strafrechtlichem Vorgehen gegen Verbrechen wie Missbrauch spricht Franziskus auch; für ihn ist das aber nicht die eigentliche Strategie, sondern die Konsequenz einer "Kultur, in der jeder Mensch das Recht hat, ein Klima frei von jeglichem Missbrauch zu atmen". Seine Thesen unterfüttert der Papst mit etlichen Verweisen auf lehramtliche Texte – ein Signal, dass er seinem Schreiben Verbindlichkeit beimisst.
In der Analyse Benedikts XVI. waren es die Säkularisierung, liberale Sitten und missverstandene Neuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965), die zu Laxheit innerhalb der Kirche führten und Missbrauch begünstigten. Franziskus beschwört nun gerade ein Leitbild des Konzils, die "Freiheit der Kinder Gottes", für einen Neuanfang. Denn an der Wurzel des Übels liegt für ihn nicht laxe Moral, sondern pervertierte Macht.
Burkhard Jürgens