In den sogenannten Residential Schools wurden indigene Schülerinnen und Schüler jahrzehntelang ihrer Kultur beraubt, misshandelt und teilweise auch missbraucht. Viele dieser Einrichtungen wurden von der Kirche betrieben. Franziskus will deswegen auch ehemalige Schüler der Indigenen-Internate treffen.
Wofür steht der Begriff Residential Schools?
An den Residential Schools sollten indigene Mädchen und Jungen unterrichtet und an die Gesellschaft und Kultur der europäischen Einwanderer angepasst werden. Die in den Internaten untergebrachten Kinder der First Nations, der Inuit oder der Metis - das sind Nachfahren europäischer Händler und indigener Frauen - konnten ihre Familien über Jahre hinweg nur selten oder gar nicht sehen.
Betreiber waren zumeist die Kirchen, das Geld kam vom Staat. Diese Form der Zusammenarbeit wurde mit dem Verfassungsgesetz von 1867 und dem Indian Act von 1876 ausgebaut. Darin verpflichtete sich die Regierung in Kanada, den Ureinwohnern einen Zugang zu schulischer Bildung zu ermöglichen.
Das System baute auf Schulen auf, die katholische Missionare in den einst französischen Territorien Nordamerikas errichteten. Als erste Residential School Kanadas nahm 1831 das Mohawk Institute in Brantford, Ontario, den Betrieb auf. Die letzte Einrichtung dieser Art schloss 1996 in Punnichy, Saskatchewan, ihre Pforten.
Insgesamt lebten etwa 150.000 Kinder in Residential Schools. In den 1930er Jahren gab es in Kanada 80 Schulen, drei Fünftel davon betrieben von der katholischen Kirche. Heute sollen noch mehrere Zehntausend ehemalige Schüler leben.
Wie lief das Leben in den Heimen ab?
Zunächst versprachen sich alle Beteiligten von den Schulen Vorteile: Die Indigenen hofften, Anschluss an europäische Kultur und Bildung zu finden, die Kirchen versprachen sich Fortschritte bei der Missionierung, und der Staat konnte die Verantwortung für die oft diskriminierten Ureinwohner abgeben.
Viele Schulen waren jedoch finanziell schlecht ausgestattet und überbelegt, wenige verfügten über qualifiziertes Personal. Es herrschte ein strenges Regiment: Ein Schultag begann um 5.30 Uhr und endete um 20.00 Uhr. Die Hälfte des Tages mussten die Schüler arbeiten. Ursprünglich war dies dazu gedacht, ihnen Perspektiven für ein späteres Auskommen zu schaffen. Tatsächlich trugen die Kinder oft zum Unterhalt der Schulen bei, weil die Regierung vor allem zwischen 1890 und 1950 immer wieder die Mittel kürzte.
Zuletzt sorgten Funde von Kindergräbern auf dem Gelände von Schulen für weltweite Schlagzeilen - was ist darüber bekannt?
Seit Mai 2021 wurden an ehemaligen Internaten sterbliche Überreste von mehr als 1.000 Kindern entdeckt. Den Anfang machten Funde an der früheren Indian Residential School von Kamloops; es folgten weitere an der ehemaligen Marieval Indian School in Saskatchewan, der Saint Eugene's Mission School bei Cranbrook und einer ehemaligen Schule auf der Penelakut-Insel westlich von Vancouver.
Die gefundenen sterblichen Überreste belegen die ärmlichen Lebensbedingungen in vielen Heimen. Bislang ist der Tod von mindestens 4.100 Kindern nachweisbar; Experten gehen allerdings von deutlich höheren Zahlen aus.
Woran starben die Schüler?
Bereits 1906 schlug der Arzt Peter Henderson Bryce in einem Bericht für das Amt für Indianerangelegenheiten Alarm und sprach von schockierenden Todesraten. An Schulen im Westen Kanadas soll demnach im Schnitt jeder vierte Schüler gestorben sein. Die meisten gingen Bryce zufolge an Tuberkulose, Masern und Grippe zugrunde. Einige kamen auf der Flucht um, andere starben durch Unfälle oder begingen Suizid.
Überlebende berichten, dass sie Gewalt und Erniedrigung ausgesetzt waren. "Wir wurden geschlagen, wenn wir unsere indigene Sprache sprachen, obwohl wir kein Englisch konnten", erinnerte sich der 81-Jährige Barney Williams im "Spiegel". "Als Strafe steckten sie uns für acht Stunden ein keilförmiges Holzstück in den Mund." Am schlimmsten sei jedoch der sexuelle Missbrauch gewesen. "Ich wurde acht oder neun Jahre von einem Priester vergewaltigt."
Wurden die Geschehnisse aufgearbeitet?
Mitte der 80er Jahre traten ehemalige Schüler erstmals öffentlich auf, unter anderem, indem sie Klagen auf Entschädigung vor Gerichten einreichten. 2006 schloss Kanadas Regierung mit den indigenen Völkern eine Vereinbarung ab, das Indian Residential School Settlement Agreement. Diese Vereinbarung sah die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission vor (Truth and Reconciliation Commission, TRC).
Premier Stephen Harper entschuldigte sich 2008 bei den Indigenen für das Versagen des Staates und bat um Verzeihung. Zwischen 2009 und 2015 sammelte die TRC Berichte von rund 7.000 ehemaligen Schülern.
Der 2015 vorgelegte Abschlussbericht dokumentiert, wie das Leid der indigenen Schüler und die oft gewaltsame Unterdrückung ihrer Wurzeln jahrzehntelang ignoriert wurde; die Verfasser sprechen von einem "kulturellen Völkermord".
Die Arbeit der TRC wird inzwischen vom National Centre for Truth and Reconciliation in Winnipeg, Manitoba, fortgeführt. Es flossen auch größere Summen für Wiedergutmachungen. Kritiker beklagen aber, dass es immer noch an Mitteln fehle, um ungeklärte Todesfälle in den Internaten zu untersuchen und nicht gekennzeichnete Grabstätten zu identifizieren.
Wie reagierte die katholische Kirche?
Die katholischen Bischöfe in Kanada entschuldigten sich im vergangenen Jahr umfassend für das Leid, das durch die Beteiligung der Kirche am früheren Internatssystem verursacht wurde. "Wir erkennen den schweren Missbrauch an, der von einigen Mitgliedern unserer katholischen Gemeinschaft begangen wurde: physisch, psychologisch, emotional, spirituell, kulturell und sexuell", heißt es in der Erklärung.
Nach einer Sammelklage 2006, mit der Überlebende der Schulen 50 kirchliche Rechtsträger vor Gericht brachten, hätte die Kirche 25 Millionen kanadische Dollar zahlen müssen. Nach Angaben der Juristin Mary Ellen Turpel-Lafond, Leiterin des Dialogzentrums für die Geschichte der Residential Schools an der Universität in Vancouver, befreiten sich die Kirchenvertreter aber weitgehend von dieser Verpflichtung und zahlten lediglich vier Millionen Dollar.
Unlängst sagten die Bischöfe zu, in den kommenden fünf Jahren mindestens 30 Millionen Kanadische Dollar in einen "Fonds für Indigene Versöhnung" einzuzahlen. Aktuell stehen nach Angaben der Bischofskonferenz rund 4,6 Millionen Dollar zur Verfügung. Verwaltet wird der Fonds von einer eigens gegründeten Wohltätigkeitsorganisation.
Wie sieht die Situation im Nachbarland USA aus?
Auch dort gab es zahlreiche Residential Schools. Die Aufarbeitung hinkt der in Kanada nach Ansicht von Fachleuten jedoch hinterher.
Innenministerin Deb Haaland, die selbst indigene Wurzeln hat, erhöht allerdings den Druck. In einem ersten Bericht ihres Ministeriums vom Mai ist die Rede von mindestens 500 Todesfällen an 19 Schulen. Die Zahlen sind vorläufig und könnten noch steigen. "Ausufernder körperlicher, sexueller und emotionaler Missbrauch, Krankheiten, Unterernährung, Überbelegung und mangelnde medizinische Versorgung" gehörten demnach zum Alltag der Kinder.