KNA: Was bedeutet der 70. Jahrestag der israelischen Staatsgründung für Sie?
Abraham Skorka (Rabbiner): Die Wiederherstellung der jüdischen Souveränität auf israelischem Boden ist die Erfüllung eines Traums. Schon der große spanische Philosoph Julian Marias erkannte einst nach einem Israel-Besuch in den 60er Jahren: Dass sich das jüdische Volk niemals mit der Zerstörung seiner Heimat und der eigenen Zersplitterung abgefunden hat, ist der Grund dafür, dass es weiterhin existiert.
KNA: Wie konnte die Sehnsucht nach Rückkehr und Wiederaufbau über fast 2.000 Jahre hinweg derart identitätsstiftend wirken?
Skorka: Der biblische Auftrag, in Israel eine Nation zu errichten, macht das ganze Wesen jüdischer Kultur aus. Es ist Gottes Wille, dass wir als Juden durch die Bewältigung dieser Herausforderung eine Botschaft von Frieden und Spiritualität an die ganze Welt senden.
KNA: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg?
Skorka: Die Staatsgründung ist keine Folge der Schoah, sondern eine Antwort darauf. Seit dem totalen Verlust jüdischer Souveränität durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und die Niederlage im Bar-Kochba-Aufstand gegen das Römische Reich bitten die Juden Gott in ihren Gebeten: Bitte hilf uns, unser Leben auf israelischem Boden wiederaufzubauen. Sie beten für die Schechina, die heilige Gegenwart Gottes in Israel. Es geht also nicht nur um den Wunsch nach einer Zuflucht auf eigenem Territorium.
KNA: Ein anderes Gebiet für die Errichtung des jüdischen Staates wäre demnach nicht möglich gewesen?
Skorka: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Theodor Herzl unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre die Idee vom Judenstaat entworfen hatte, gab es das sogenannte Uganda-Programm der Briten. Der Plan sah vor, mitten in Afrika so etwas wie einen jüdischen Staat aufzubauen. Es waren ausgerechnet die russischen Juden innerhalb der zionistischen Bewegung, die den Plan letztlich ablehnten. Und das, obwohl sie unter dem fürchterlichen Antisemitismus im zaristischen Russland zu leiden hatten. Trotz aller Unterdrückung und Verfolgung sagten sie: Dieses Angebot kommt niemals infrage! Die Heimat unserer Ahnen ist Israel.
KNA: Allerdings ist der Zionismus in erster Linie keine religiöse Bewegung.
Skorka: Das ist richtig. Unter den Begründern dieser politischen Bewegung mit dem Ziel eines jüdischen Nationalstaats waren viele nicht praktizierende Juden. Aber - und das ist ein großes Aber - selbst für nichtreligiöse Juden hat die religiöse Kultur eine besondere, spirituelle Dimension. Der Philosoph Martin Buber etwa war ein religiöser Denker, aber kein praktizierender Jude. Worauf ich hinaus will: Der jüdische Staat Israel ist nicht einfach ein weiterer Staat unter vielen. Die eigentliche Bedeutung dahinter ist die Aufgabe aller Juden, auf diesem Flecken Erde ein Zeichen zu setzen für Frieden, Spiritualität und gegen alle Formen der Gottlosigkeit.
KNA: Wenn man die aktuellen Bilder von den gewaltsamen Zusammenstößen am Gazastreifen sieht, wirkt Israel nicht besonders friedlich.
Skorka: In der Tat gibt es einen Widerspruch zwischen der großen Idee von Israel und der Realität, die wir im Moment erleben. Es gibt auf allen Seiten dialogbereite Menschen, aber leider auch weniger dialogbereite. Zweifellos hat die Errichtung des israelischen Staates viele Probleme für die palästinensische Bevölkerung mit sich gebracht. Man muss jedoch sehen, dass Israel schon am Tag nach der Unabhängigkeitserklärung von einer Allianz mehrerer arabischer Staaten angegriffen wurde. Von 1948 bis zum Sechstagekrieg 1967 befand sich ein Großteil des israelischen Territoriums unter jordanischer und ägyptischer Verwaltung. Auch in dieser Zeit gab es keine Lösung für die Palästinenserfrage.
KNA: Alle weiteren Bemühungen um einen Ausgleich sind ebenfalls gescheitert. Was ist Ihre Erklärung dafür?
Skorka: Nehmen wir den Oslo-Friedensprozess. Ministerpräsident Ehud Barak war 2000 in Camp David zu Zugeständnissen bereit. Palästinenserführer Jassir Arafat dagegen hatte kein Interesse an einem Friedensabkommen. Am Tag der Unterzeichnung hätte er seinen Job verloren. Sein Geschäft war die Krise. Es gibt immer noch palästinensische Anführer, die nicht mal bereit sind, das Existenzrecht Israels anzuerkennen. Sicher hat Israel viele Fehler gemacht. Dennoch würde ich mir eine konstruktivere Haltung der Palästinenser wünschen - etwa in Form einer großen Friedensbewegung wie "Peace Now" auf israelischer Seite.
KNA: Auch um Israel herum geht es derzeit wenig friedlich zu. Da ist etwa der Krieg in Syrien.
Skorka: Die ganze Welt, auch Europa, leidet unter den internen Problemen der Muslime. Das ist die Wahrheit. Der Konflikt in Syrien ist eine Auseinandersetzung verschiedener islamischer Richtungen. Israel hat damit nichts zu tun.
KNA: Wie könnte - trotz aller Hindernisse - Frieden im Nahen Osten einkehren?
Skorka: Wir brauchen mutige Anführer auf allen Seiten, die sich für Frieden einsetzen. Ich halte das für eine realistische Möglichkeit - und bete, dass es dazu kommt.
KNA: Sie sind ein Freund von Papst Franziskus und haben Israel 2014 gemeinsam mit ihm besucht. Was kann die katholische Kirche im Nahost-Konflikt bewegen?
Skorka: Sie sollte die gleiche Haltung vertreten wie der Papst bei diesem Besuch. Es ist ihm damals gelungen, einen vollkommen ausgewogenen Standpunkt einzunehmen. Er sprach sich für die Zwei-Staaten-Lösung aus und nannte die Dinge beim Namen. Ein Satz ist mir besonders im Gedächtnis. Als ein palästinensischer Jugendlicher Israel die Schuld für alles Leid gab, antwortete ihm Franziskus: Wenn wir mit Hass antworten, wird uns das den Weg in eine bessere Zukunft versperren.
Das Interview führte Alexander Pitz.