Offenbar hat sich Christian Stückls Trip in die USA 2018 gelohnt. Auf seiner Werbetour für die Passionsspiele 2020 traf er in den Metropolen etliche Reisejournalisten und versuchte, sie trotz überschaubarer Englisch-Kenntnisse für das "most famous passion play in the world" zu erwärmen.
52 sehenswerte Orte der Welt
In ihrer aktuellen Liste der 52 sehenswertesten Orte der Welt empfiehlt die "New York Times" 2020 auch einen Abstecher nach Oberammergau: wegen der nur alle zehn Jahre auf die Bühne gebrachten Aufführung vom Leiden und Sterben Jesu Christi und der nicht minder traditionsreichen Handwerkskunst der "Herrgottschnitzer".
Oberammergau und die Amerikaner - das ist eine alte Beziehung. Nach dem Ausbau der Bahnstrecke bis Murnau sorgte das englische Reisebüro Thomas Cook schon im ausgehenden 19. Jahrhundert für internationale Gäste, die sich besonders in der Passionsspielsaison gern in der oberbayerischen Idylle einfanden, darunter einige Prominenz. Der Großindustrielle Henry Ford war von Jesusdarsteller Anton Lang (1875 bis 1938) so fasziniert, dass er ihm ein Auto schenkte. 1910 kam erstmals ein US-Präsident zu Besuch, Howard Taft, er blieb nicht der einzige.
2020 stehen genau so viele Männer wie Frauen auf der Bühne
Nach 1945 übernahm das US-Militär eine Kaserne in Oberammergau zu Ausbildungszwecken, heute befindet sich auf dem Gelände eine Nato-Schule. Als große Ausnahme von der Regel durften sogar schon amerikanische Kinder an den Passionsspielen mitwirken, wenn deren Eltern an dieser Schule stationiert waren. Denn eigentlich muss man in dem Ort geboren sein oder mindestens 20 Jahre dort wohnen, um mitmachen zu dürfen. Als in den USA angesiedelte jüdische Verbände Kritik an als antisemitisch empfundenen Textpassagen äußerten, wurden diese gestrichen.
Als große Besonderheit hebt die "New York Times" hervor, dass 2020 erstmals in der fast 400-jährigen Geschichte der Passionsspiele genau so viele Männer und Frauen in verschiedenen Rollen auf der Bühne zu sehen sind. Tatsächlich werden diesmal unter den nicht ganz 2.000 Mitwirkenden die Frauen sogar ein zahlenmäßig leichtes Übergewicht haben, wie Sprecher Frederik Mayet erklärt. Bei den 20 Haupt- und gut 100 Nebenrollen gibt es deshalb keine Quote.
Regisseur bekannt für Reformen
"Ich kann keine römischen Soldatinnen machen", sagt Regisseur Christian Stückl entschuldigend. Größere weiblich besetzte Partien gibt es nur für Maria, die Mutter Jesu, die Jüngerin Maria Magdalena und Veronika, die Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung auf dem Hügel Golgotha das berühmte Schweißtuch reicht.
Dennoch hat sich Stückl einiges einfallen lassen, um den Frauen auf der Bühne etwas mehr Präsenz zu verleihen. Der Chor wurde auf 64 Männer und Frauen erweitert. Und auch die in der biblischen Erzählung nur im Traum erwähnte Gattin des Pilatus lässt der Spielleiter leibhaftig auftauchen. Aber: Weibliche Apostelinnen wird man auch in der Passion 2020 vergeblich suchen. Und auch die in der theologischen Tradition geschlechtslos gedachten Engel werden von männlichen Darstellern gemimt.
Ob das in alle Ewigkeit so bleibt? Stückl, der zum vierten Mal für die Inszenierung verantwortlich zeichnet, hat schon so manche Reform durchgesetzt. So ist es etwa kein Problem, dass je ein Muslim in die Rolle des Judas und des Nikodemus schlüpft.
Nicht zufrieden mit dem Status quo
Auch die Oberammergauerinnen haben schon mehrfach bewiesen, dass sie sich mit dem überlieferten Status quo nicht zufriedengeben. Dass sie wegen ihres Familienstandes oder Alters ausgeschlossen werden konnten, dagegen zogen sie sogar vor Gericht - mit Erfolg.
Um ihre Zukunft kämpfen müssen allerdings die seit 500 Jahren in dem 5.000-Seelen-Ort ansässigen "Herrgottschnitzer". Die Zeit, da sich ganz Europa in Oberammergau mit Kruzifixen eindeckte, ist länger vorbei. Gut 40 Holzbildhauer gibt es noch, aber immer weniger können allein von ihrem Handwerk leben. Manch einer besetzt eine Nische wie die Ausstattung von Kirchen oder die Restaurierung alter Figuren. Ansonsten braucht man Sonderkonjunkturen: Wenn ein Bayer Papst wird oder ein bayerischer Ministerpräsident die Anbringung von Kreuzen in jeder Amtsstube befiehlt. Oder eben, wenn, wie alle 10 Jahre, eine halbe Million Gäste zum frommen Spiel nach Oberammergau strömen.