Zufall oder nicht – vor dem prall mit Briefen und Fotos gefüllten Koffer legen Bettina und Tibor Brockmann gleichzeitig ihren Stein ab. Das heißt, ihre persönliche Wahl fällt genau auf diesen der insgesamt 100 Koffer, die derzeit in der Longericher Pfarrei St. Bernhard zu sehen sind. Jeder der Ausstellungsbesucher soll eine Markierung vornehmen und sich für das Exponat entscheiden, das ihm in irgendeiner Weise am nähsten ist, gewissermaßen seelenverwandt. Oder unter Umständen Eigenes spiegelt, Assoziationen weckt... So jedenfalls lautet die Einladung an diesem Abend von Religionswissenschaftlerin Merle Wieschhoff, die durch die Koffer-Ausstellung führt und dazu anregt, die sehr unterschiedlichen Kofferinhalte – mit teils bewegendem, auf jeden Fall biografischem, aber auch skurrilem Beiwerk – auf sich wirken zu lassen. "Das ist mein Koffer, so sähe er aus", erklärt Bettina Brockmann entschieden und verweist auf die vielen, mitunter schon verblichenen Aufnahmen und geöffneten Umschläge. "Denn ich möchte auf meine letzte Reise möglichst viele Erinnerungen mitnehmen. Fotos und Briefe stehen für die vielen guten Gefühle, die ich mit einem Rückblick in die Vergangenheit verbinde." Ihrem Mann Tibor kommt noch etwas anderes in den Sinn: "In diesem Koffer steckt ein ganzes Leben; hier offenbart sich jemand mit allem, was er ist. Das übt eine große Faszination auf mich aus." Denn einen vergleichbaren Koffer mit Kostbarkeiten solcher Art habe auch er im Keller stehen. Das mache für ihn gerade dieses "Gepäck" besonders gut nachvollziehbar.
Ausstellung sorgt für lebhafte Gespräche
Für Claudia Gebhardt ist es der Koffer, in dem nur ein einziges weißes Blatt mit dem Schriftzug "Gottvertrauen" liegt, vor dem sie stehen bleibt und erklärt, was sie dabei anspricht. "Gottvertrauen wurde mir an der Schwelle, von der wir kommen, als Reisegepäck mitgegeben. Es trägt mich durch die Welten, bis ich an der Schwelle zum Tod stehe. Aber auch dann hoffe ich, ohne Angst und Sorgen – eben im Vertrauen auf Gott – zu sein." Als sie sich zum ersten Mal mit ihrem sechsjährigen Sohn die vielen, in der großen Hallenkirche nebeneinander aufgestellten Koffer angesehen habe, sei ein lebhaftes Gespräch entstanden, erzählt sie. Denn unwillkürlich packe man angesichts der Vielzahl dieser Impulse im Geiste auch seinen eigenen Koffer. Da entstehe von ganz alleine viel Kopfkino. Jedenfalls könne man einer solchen Ausstellung nicht gleichgültig gegenüber bleiben. Sie mache etwas mit einem, findet die junge Mutter.
Beitrag zum pastoralen Zukunftsweg
Temur J. Bagherzadeh, seit Oktober 2017 Leitender Pfarrer in Longerich und Lindweiler, sieht seine Erwartung, die er an dieses Kunstprojekt geknüpft hatte, erfüllt. "Ich wollte meine neue Gemeinde nicht nur bei Besuchen kennenlernen, sondern mit ihr über ein gemeinsames pastorales Projekt in Kontakt kommen, an dem sich alle Generationen – angefangen bei den Kitas über die Grundschüler, Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren bis hin zum Hospiz am Ort – beteiligen und ihre individuellen Ideen zu einem Rahmenprogramm entwickeln konnten. Im Zentrum sollte die Koffer-Ausstellung stehen." Schnell hätten sich dann an ihr Fragen wie "Was macht mein Leben aus?", "Was gibt ihm Sinn?", "Was ist mir im Hinblick auf die eigene Endlichkeit wichtig?", "Wie gehe ich mit dem Tod um?" festmachen lassen und im Fokus der Auseinandersetzung gestanden. Schließlich sei der Koffer auch ein Symbol für Begrenzung – was geht hinein und wovon muss ich mich trennen – und Grenzerfahrungen. "Wir beschäftigen uns damit, was unserem Leben Inhalt gibt", so der Seelsorger. Eine solche Überlegung gelte gleichermaßen für die Gemeinde und laute dann: Wie lebendig ist eigentlich unser Netzwerk, das wir mit so viel Aufwand betreiben? Das Hinterfragen des eigenen Selbstverständnisses sei eine Herausforderung, erklärt Bagherzadeh. Am Ende aber sei die Diskussion darüber mit ihren Antworten ein Beitrag zu dem vom Bistum initiierten pastoralen Zukunftsweg. Denn die Gemeinde sei sprichwörtlich in Bewegung und einen anhaltenden Dialog geraten, bei dem es um die großen Menschheits- und Glaubensfragen gehe. Der Koffer sei nur ein "Abholer" dafür, sich über Freuden und Sorgen in der aktuellen Lebenssituation auszutauschen. Ganz automatisch zeige sich aber sehr viel mehr als nur das: nämlich ein großes Bedürfnis, eigene Empfindungen zu existenziell wichtigen Fragen ins Wort zu bringen.
Jeder Koffer erzählt eine Geschichte
Die Ausstellung ist nicht neu. Einen "Koffer für die letzte Reise" haben bereits im Jahr 2006 Menschen gepackt, die sich damals von dem Gladbacher Bestatter und Trauerbegleiter Fritz Roth dazu inspirieren ließen, sich mit ihrem eigenen Sterben auseinanderzusetzen und über das Wesentliche nachzudenken; über das, was sie an Botschaft hinterlassen wollen oder was zeitlebens ihr Leben geprägt hat, was sich nicht erfüllt oder sogar zu den so genannten Brüchen in der eigenen Biografie geführt hat: also auch ungelebtes Leben. 100 Frauen und Männer, alte und junge, Künstler, Theologen und Handwerker, Prominente und Nicht-Prominente haben daraufhin einen Koffer gepackt, der sie auf der Reise an der Schwelle zum Tod – oder nach christlichem Verständnis in ein neues Leben – begleiten könnte. Herausgekommen ist dabei ein einzigartiges Kunstprojekt, das so vielfältig ist wie die Menschen selbst, ihre Biografien, Träume und Weltanschauungen. In der Gesamtschau ergibt sich ein berührendes und auch aufwühlendes Bild dessen, was den Kern eines Menschen ausmacht oder seine Sehnsucht nach dem, was Lebensziel ist und war. Letztlich erzählen alle diese Koffer Geschichten, die sich in der Summe wie ein spannendes Kompendium unterschiedlichster Lebensentwürfe und -bilanzen lesen.
Begleitschreiben mit Erklärungen
So paradox es auch klingt, sich nochmals für die letzte Wegstrecke zu rüsten – viele der Projektteilnehmer notieren die Erkenntnis, dass sich ja doch nichts mitnehmen lässt, auf einem kurzen Begleitschreiben, das über jedem Koffer hängt und als Schlaglicht einen Einblick in sehr Persönliches beim Thema "Sterben und Tod" zulässt. Manche geben damit auch ein Zeugnis, wie sie das irdische Dasein erfahren oder den steilen Grat, auf dem sich erfülltes und weniger geglücktes Leben in einer begrenzten Zeitspanne abspielt. Die einen – das veranschaulicht die Vielzahl der einzelnen Objekte sehr ehrlich, manchmal schonungslos – glauben an keinerlei Perspektive und schöpfen möglichst viel Genuss aus dem Diesseits, andere dokumentieren ihren tiefen Glauben mit schlichten Mitteln wie einem Rosenkranz, einem Kreuz oder einer Bibel. Wieder andere setzen politische Statements und sorgen für Provokation. Und eine nicht unrepräsentative Gruppe bewegt mit einem Schicksal, das manchmal nur in leisen Andeutungen zu erahnen ist. Beispielsweise wenn eine Mutter in ihren Koffer Kuscheltiere ihrer drei Kinder legt und dazu Harry Potter-Bücher für die eine Tochter, die viel zu früh verstorben ist, der sie aber gerne daraus vorgelesen hätte.
Auch der vertrocknete Ast aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen, den jemand mahnend als Beleg für unmenschliche Grausamkeit in einen Koffer gepackt hat, spricht für sich. Oder der Koffer voller Kerzen und mit einem bunten Herzen, den ein junger Mann mit Behinderung zusammengestellt hat, um "Licht, Wärme, Harmonie und unsterbliche Liebe" zum Ausdruck zu bringen. Schließlich bewegt auch das sprichwörtlich letzte Hemd, in dem jeder Mensch diese Erde verlässt und das sinnbildlich für alles Vergängliche steht.
Wer diese Ausstellung besucht, erfährt nicht unbedingt mehr über die Geheimnisse zwischen Himmel und Erde, aber er kann sich anstecken lassen von einem "Reisefieber", das – gläubig oder nicht gläubig – zweifellos die Aussicht auf ein großes Abenteuer verspricht.
Beatrice Tomasetti