Pastoraltheologe zu Kirchenaustritten älterer Menschen

"Weniger Christen - aber stärker im Glauben"

Nach den Ergebnissn einer Umfrage der "Rheinischen Post" treten immer mehr ältere Menschen aus der Kirche aus. Der Wiener Pastoraltheologen Paul Zulehner spricht im domradio.de-Interview von einem demografischen Problem.

Kirchenaustritt / © Ingo Wagner (dpa)
Kirchenaustritt / © Ingo Wagner ( dpa )

domradio.de: Man denkt ja eigentlich immer, es seien eher die Jüngeren, die aus der Kirche austreten. Warum tun das auch ältere Menschen immer häufiger?

Paul Zulehner: Mein Eindruck ist, dass sich die Menschen im Laufe des Lebens nicht tiefgreifend verändern. Jetzt kommt eine ältere Generation, die schon als junge Menschen ein verändertes Verhältnis zur Institution Kirche hatte. Es ist die Generation, die generell zu Institutionen ein gebrochenes und sehr zwiespältiges Verhältnis hat. Beispielsweise werden zurzeit Gewerkschaften immer mitgliederärmer. Die Leute zahlen nicht, möchten aber, dass die Gewerkschaften eine gute Arbeit machen. Ich glaube, dass es im Verhältnis zur Kirche ähnlich ist. Auch hier sagen die Leute, man müsse nicht unbedingt Kirchenmitglied sein. Aber man erwartet, dass die Kirche ihren Job ordentlich macht. Und dann treten sie aus, weil sie für sich selber nicht genügend Gründe haben, dabei zu bleiben.

domradio.de: Viele scheinen demnach ein Problem mit der Institution Kirche zu haben, nicht aber mit ihrem Glauben?

Paul Zulehner: Jetzt müsste man genauer sagen, was der Glaube ist. Ich denke, dass jedes menschliche Leben eine Menge Fragen stellt. Man fragt sich - vor allem, wenn Menschen älter werden - was das Leben gebracht hat, wo es nun hingeht und was nach dem Tod sein wird. Die Fragen, die auch Immanuel Kant schon gestellt hat, bleiben jedem Menschen erhalten, solange er ein Mensch ist. Diese Fragen muss er irgendwie beantworten. Heute finden die Leute diese Antworten nicht mehr mit völliger Selbstverständlichkeit in unserer Kultur vor. Die Menschen sind verunsichert. Es gibt viele Antworten auf dem Markt. Die einen sagen, mit dem Tod sei alles aus. Die anderen sagen, man könne darüber hinaus hoffen. Manche liebäugeln auch mit der Reinkarnation. Mit diesen Antworten müssen sich die Menschen jetzt selber mit auseinandersetzen und sich ihre Meinung bilden. Was wir heutzutage haben, sind nicht mehr festgebundene Glaubende, sondern eher skeptisch suchende Menschen. Das zeigen alle unsere Untersuchungen. Wir sind in einer Kultur der Skepsis und des Suchens angekommen. Ich glaube, dass die Kirchen gut beraten sind, Fragen zu stellen und herauszufinden, wonach die Leute suchen. Es muss auch die Frage gestellt werden, wie man auch über das Evangelium ins Gespräch kommen kann. Denn möglicherweise kann es eine der tragfähigsten Antworten für das Leben sein.

domradio.de: Die Frage ist, welche Konsequenzen das für die Kirche hat. Sie sagen, da muss es einen ganz neuen Ansatz geben, richtig?

Paul Zulehner: Wir haben uns bisher darauf verlassen, dass es Schicksal war, in Europa zur Kirche zu gehören und Christ zu sein. Das war nach den Reformationsjahrhunderten- und Jahrzehnten ganz selbstverständlich: Man war entweder Protestant oder Katholik. Man konnte gar nicht anders. Diese Zeiten sind endgültig vorbei. Heute ist der Glaube das Thema einer freien Wahl. Die Kirchen haben meiner Ansicht nach noch nicht verstanden, dass man den Leuten bei dieser Wahl das Evangelium so schmackhaft machen muss, dass es für sie attraktiv ist. Im Evangelium hat es unlängst geheißen, dass Jesus Wort des ewigen Lebens sei. Und das ist ein Grund, zu bleiben, auch wenn man Störungen mit der Kirche erlebt. Der Interpretation der Kirchenaustrittszahlen folgend, sind wir gewohnt, immer von 100 Prozent herunter zu rechnen. Das ist eigentlich out, denn das ist die Erinnerung an die alte nachreformatorische Zeit, als alle dabei sein mussten. Heute müssen wir eigentlich umgekehrt sagen, dass es ein Wunder ist, wenn in Österreich über zwölf Prozent jeden Sonntag in die Kirche kommen. Wenn ich mir vorstelle, dass die Menschen, die sonntäglich in die Kirche kommen, aus dem Evangelium heraus jedes Mal solidarischer werden, offener für Flüchtlinge, bereiter zu helfen und sich ehrenamtlich einzusetzen, dann wäre das eine sensationelle Sache für das Land. Ich rechne von unten nach oben und nicht von oben nach unten. Und ich sage, dass wir in den nächsten Jahrzehnten sicher noch weitere Menschen verlieren werden. Nämlich solche Leute, die keine innere Bindung mehr an das Evangelium finden können. Wir werden also weniger Katholiken und weniger Protestanten haben. Meine Zuversicht ist, dass unter den weniger werdenden Katholiken und Protestanten mehr engagierte und sehr starke Christen sein werden.

Das Interview führte Susanne Becker-Huberti.


Quelle:
DR