epd: Nach der Machtübernahme der Taliban haben Spitzenpolitiker Fehler und das Scheitern der westlichen Afghanistan-Mission eingeräumt. Was sollte Deutschland jetzt tun?
Thorsten Latzel (Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland): Die vordringliche Aufgabe ist jetzt, die Menschenaufzunehmen, die sich in Afghanistan für eine zivile demokratische Gesellschaft eingesetzt haben. Und da sollte man den Personenkreis möglichst weit ziehen. Es geht um Ortskräfte, für die wir unmittelbare Verantwortung tragen, und Mitarbeitende ziviler Hilfsorganisationen. Aber auch um Frauenrechtlerinnen, Lehrer und andere Menschen, die für den Aufbau einer offenen Gesellschaft gearbeitet haben und jetzt um Leib und Leben fürchten müssen. Hier sollte als Flüchtlingsgrund anerkannt werden, dass Menschen in Afghanistan keine Zukunft mehr für sich sehen.
epd: Welche Lehren lassen sich im Blick auf Menschenrechte und den Umgang mit Konflikten in anderen Ländern ziehen?
Latzel: Die Entwicklung hat die Grenzen einer militärischen Interventionslösung aufgezeigt. Interventionen reichen nicht aus, um die Menschenrechte in anderen Ländern zu stärken. Besonders gravierend wirkt sich das Fehlen einer klaren Exit-Strategie aus, die zu einem überhasteten Rückzug des Westens geführt hat. Zugleich wird deutlich, dass es keinen wirklichen Rückhalt für die in den vergangenen 20 Jahren aufgebauten zivilen Strukturen gegeben hat. Dies kann offenbar nur gelingen, wenn es eine starke gesellschaftliche Basis für Demokratie gibt.
Das Scheitern der Mission bedeutet einen Imageverlust des Westens und es stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit unseres Handelns. Wir stecken in einem Dilemma: Wir merken schmerzlich die Grenzen eines Eingreifens von außen, wollen aber die Menschen in Afghanistan auch nicht der Macht der islamistischen Kräfte ausgesetzt sehen.
epd: Mit Blick auf afghanische Flüchtlinge wird diskutiert, ihre Versorgung in Nachbarstaaten zu unterstützen, damit sie möglichst nicht nach Europa kommen und ein großer Flüchtlingszuzug wie 2015 vermieden wird. Ist das der richtige Weg?
Latzel: Zunächst muss man sagen, dass viele Afghanen gar nicht unbedingt nach Europa kommen wollen. An den Flüchtlingsbewegungen weltweit sieht man, dass Menschen lieber in einer vertrauteren Gesellschaft und Region bleiben. Noch ist völlig unklar, wie viele Menschen aus Afghanistan flüchten wollen und können und wohin sie sich bewegen. An diesen Orten sollten sie dann menschenwürdig versorgt werden und eine Perspektive erhalten. Mit dieser Last sollten wir andere Länder nicht alleinlassen.
epd: Sollte die humanitäre Arbeit in Afghanistan trotz der Taliban-Herrschaft fortgesetzt werden, wenn dies möglich ist?
Latzel: Inwieweit die Arbeit von Hilfsorganisationen unter den Taliban weiter möglich sein wird, muss sich erst noch zeigen. Im Augenblick ist die Situation völlig offen: Wir wissen nicht, welche Art internationaler Hilfe, etwa bei Ernährungsprogrammen, die Islamisten akzeptieren, wenn sie an der Macht sind. Wir müssen auch fragen, an welchen Stellen eine Unterstützung sinnvoll und verantwortlich leistbar ist. In jedem Fall habe ich höchste Achtung vor Menschen, die sich dafür engagieren, der afghanischen Bevölkerung zu helfen.
epd: Hilfe hat bislang auch der deutsche Staat geleitet. Die Bundesregierung zahlt aber vorerst keine Entwicklungsgelder mehr und Außenminister Heiko Maas (SPD) hat gedroht, die Entwicklungshilfe einzustellen, falls die Taliban ein Kalifat in Afghanistan errichten
sollten.
Latzel: Wie es in dieser Frage weitergeht, wird stark davon abhängen, wie sich die Taliban verhalten werden. Hier gilt es zudem politisch abzuwägen. Leiten sollte uns die Frage: Was dient den Menschen vor Ort am meisten? Es muss ja darum gehen, die Bevölkerung zu unterstützen, ohne die Machtstrukturen der Unterdrücker zu stärken. Die Lage ist komplex, zumal auch Länder wie China und Russland eine Rolle spielen und es in der Region auch um Bodenschätze und machtpolitische Interessen geht.