Peter Stamm über seinen Roman "Nacht ist der Tag"

Was passiert, wenn man sein Gesicht verliert

"Es ist eben nicht alles gut", sagt Peter Stamm im domradio.de Interview: "Und deshalb muss Literatur auch enttäuschen, indem sie uns unsere Täuschungen wegnimmt und den Blick auf unser Leben schärft". In seinem neuen Buch "Nacht ist der Tag" läßt Peter Stamm seine Romanheldin Gillian ihr Gesicht verlieren. Es wird bei einem Autounfall zerstört.

Peter Stamm / © Gaby Gerster
Peter Stamm / © Gaby Gerster

Der Autor erzählt, dass er mit Leuten gesprochen habe, deren Gesicht stark entstellt wurde: "Und die haben mir bestätigt, dass es ein Verlust der Identität überhaupt ist, dass man auseinander fällt, wenn man sich nicht mehr sehen kann. Mann ist dann für eine Zeit niemand mehr und schwebt in einem Zustand, dass man nicht mehr weiß, wer man ist". Gillian erkennt in diesem Zustand, dass auch ihr Leben vor dem Unfall eine Täuschung, "eine einzige Inszenierung" gewesen ist.

Gillian zieht sich nach dem Unfall zurück – in die Berge. Nachdem ihr Gesicht nach vielen Operationen wieder hergestellt ist, arbeitet sie in einem Ferienhotel als Animateurin. "Sie ist am Schluss viel mehr sie selbst – sie hat sich damit abgefunden, dass im Leben vieles auch Spiel ist. Sie führt jetzt nicht unbedingt ein anderes Leben, aber sie sieht dieses Leben anders".

Peter Stamm stellt in seinem Roman die große Frage nach der Identität und dem Ich. Eine Gebrauchsanweisung zur Selbstfindung ist sein Buch weiß Gott nicht. Aber es gibt uns eine Ahnung, wie es gelingen könnte, das Leben besser zu verstehen, indem wir genau hinschauen – auch das Wundern und Staunen nicht verlernen. "Ein Kritiker hat mir vorgeworfen, mein Buch sei Lebenshilfe. Und? Wo ist das Problem? Ich finde, Literatur darf Lebenshilfe sein. Wenn mir ein Buch hilft, mein Leben anders zu sehen, dann ist das doch sinnvoll".