Vom Ernteglück

Pflücke den Tag!

Über Wochen und Monate sieht der Gärtner seine Früchte wachsen und reifen, dann pflückt er sie. Ein tiefes seelisches Wohlbefinden stellt sich ein. Und eine alte Lebensweisheit steckt darin: "Carpe diem!"

Herbstpracht / © Sab.Q.
Herbstpracht / © Sab.Q.

Der Römer Horaz, kurz vor Jesu Geburt Militärtribun, dann in zweiter Karriere Dichter und Denker, schrieb den berühmten Satz vom "Carpe diem!", im Deutschen meist übersetzt mit "Nutze den Tag!". Aber eigentlich meinte Horaz: "Pflücke den Tag!", also: mach ihn dir im guten Sinne samt seiner Freuden zu Eigen. Ein Tun steckt darin, eine gewisse Aktivität, und auch ein Wollen und Wissen, um sich den Tag auch tatsächlich "pflücken" zu können.

Pflücken – wir Gärtner erleben das zur Erntezeit – ist eine körperliche, sinnliche Erfahrung. Sie ist ganz auf den Moment konzentriert. Es hat etwas Lustvolles, Selbstvergessenes, vor einem Baum mit reifen Früchten zu stehen und sie eine nach der anderen in den Korb zu legen. Oft merken wir gar nicht, wie viel wir schon gepflückt haben. Und wenn der Korb auf einmal schwer auf die Schultern drückt, sind wir total überrascht über die Fülle, die wir da gesammelt haben.

Der Mensch war zuallererst Sammler und Pflücker

Jedes Kind, das über eine Wiese läuft, fängt irgendwann an, die Blumen darin zu pflücken. Es ist eine jahrtausendalte Handbewegung, die in uns steckt, denn der Mensch war zuallererst Sammler, lernte zuallererst das Pflücken.
Die biblische Geschichte vom Menschen beginnt damit, mit dem Akt des Apfelpflückens vom Baum der Erkenntnis. Dieses Pflücken steht symbolisch für den eher mühsamen Weg, mit dem der Mensch Schritt für Schritt die Welt entdeckte, verbunden aber auch mit der Lust die darin steckt.

Immer schon pflücken wir, und  immer ist da dieses besondere Gefühl, wenn wir die Hand ausstrecken nach einer Himbeere in der Hecke oder nach einem Apfel am Baum. Niemand muss uns beibringen, wie das geht mit dem Pflücken. Unsere Finger finden von allein die Balance zwischen der Zartheit, die wir brauchen, um die Beeren nicht zu zerdrücken, und der Kraft, um sie von ihrem Stiel zu lösen. Den Kopf braucht es dazu gar nicht.
Und es ist diese Lust am Fühlen, Riechen und Schmecken, an der Fülle in unseren Körben, verbunden mit den bunten Farben des Herbstlaubs, mit dem Herbstlicht, das durch die Zweige bricht, was das Ernteglück des Gärtners ausmacht.

Im Pflücken steckt die Liebe zum Leben

Das kann man wissenschaftlich begründen: der Soziobiologe Edward Osborne Wilson entwickelte dazu die Theorie der "Biophilie". Nach ihr gibt es "eine im Erbgut des Menschen verankerte Zuneigung gegenüber dem Leben in seinen vielfältigen Formen", im Laufe der Millionen Jahre der menschlichen Entwicklung angereichert und in den Genen kodiert. Vor Wilson hatte schon Erich Fromm den Begriff der Biophilie als "Liebe zum Leben" geprägt, es sei der grundsätzliche Wunsch, das Wachstum zu fördern.

Kurzum, im Pflücken steckt die Liebe zum Leben und eine Förderung des Lebens, des Lebens ringsum, aber auch des eigenen inneren Seelenfriedens. Genau darum geht es Horaz mit seinem "Carpe Diem! – Pflücke den Tag!"
Judentum und Christentum brachten dann den Gedanken der Schöpfung mit ein, die es zu bewahren, zu vollenden und auch zu heilen gelte. Vor allem aber auch das Vertrauen in die Schöpfung und den Schöpfer. "Du machst das Land voll Früchte", heißt es in Psalm 104. Und weiter: "Wenn du ihnen gibst, so sammeln sie; wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gutem gesättigt." Und das meint nicht nur die Äpfel am Baum, sondern das Gute für die Seele schlechthin.

(Claudia Vogelsang / St.Q.)