"Es bezeichnet eine Assoziation von Menschen, die nicht aufgrund ihrer Herkunft zusammenhalten, sondern weil sie ein gemeinsames Wahrheitserlebnis haben oder suchen", so Sloterdijk in der Freitagsausgabe der Zeitung. Einen solchen Gedanken habe bereits die Platonische Akademie aufgegriffen, die von Platon im vierten Jahrhundert vor Christus gegründete Philosophenschule in Athen.
"Meta-Nation der Getauften"
"Radikal verstanden, meint Zugehörigkeit zu einer Kirche das Austreten aus allen familialen, tribalen, nationalen Besessenheiten und den Eintritt in eine pneumatische Kommune, in die Meta-Nation der Getauften", das sagte Sloterdijk in der Freitagsausgabe der "Rheinischen Post". In dieser Hinsicht sei das Christentum allerdings ein gescheitertes Projekt; die "nationaldämonischen Para-Christentümer" hätten es überall auf der Welt unterwandert.
"In zwei Weltkriegen haben europäische Christen aufeinander geschossen. Und wenn man näher hinsieht: Schießen denn nicht zur Stunde wieder orthodoxe Christen auf dem Boden der Ukraine gegenseitig auf sich?", fragte der Philosoph. "Kyrill, der Patriarch von Moskau, segnet Putins Waffen - mehr muss man über den Stand der Dinge nicht wissen."
Franziskus weniger narzisstisch?
Die katholische Kirche habe spätestens seit der Reformation die Kontrolle über ihren "Content" verloren, analysiert der Philosoph. "Sie musste allmählich vom hohen Ross des Monopolisten herabsteigen. Das unvermeidbare Bescheidenwerden verkörpert sich aktuell in der Figur des Papstes. Bei Franziskus gibt es weder den theologischen Narzissmus Benedikts noch den politisch-mystischen Narzissmus Johannes Pauls II."
Ethik gut, Institution nicht
Anders als die Institution könnten sich die von der Kirche propagierten ethischen Motive in der modernen Welt gut behaupten, so Sloterdijk. "Vor allem das Hauptmotiv 'Nächstenliebe' ist in weltliche Institutionen übersetzt worden, in denen sie anonym äußerst erfolgreich sind." Der Philosoph weiter: "Greenpeace und Amnesty International sind mindestens so kirchlich wie die Kirche selbst. Ihre Aktivisten leisten gelegentlich mehr als mancher geweihte Geistliche." Sloterdijk äußerte sich vor dem Pfingsfest, das als Geburtsfest der Kirche gilt.