In solchen Fragen von Gut und Böse "gibt es keine wissenschaftliche Kompetenz, an die der wissenschaftliche Laie seinen gesunden Menschenverstand abtreten müsste."
KNA: Herr Professor Spaemann, die Leopoldina hat sich für eine begrenzte Zulassung von PID in Deutschland ausgesprochen und verweist zur Begründung auf die Entscheidungsfreiheit der Frau. Ist diese wissenschaftliche Bewertung, die betont auch auf das Leid von Frauen und Eltern verweist, ethisch zu rechtfertigen?
Spaemann: Im Begriff "Entscheidungsfreiheit" der Frau steckt das ganze Problem. Niemand oder, vorsichtig gesagt, noch niemand würde sprechen von einer Entscheidungsfreiheit in Bezug auf das Leben eines behinderten Menschen im Rollstuhl, obwohl dessen Leben sehr belastende Folgen für seine Angehörigen haben kann. Wo ein menschliches Wesen existiert, da gibt es nichts mehr zu entscheiden.
Und da auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts der menschliche Embryo bereits Mensch und, wie Kant sagt, als Person zu achten ist, da gibt es mit Bezug auf das Lebenlassen nichts mehr zu entscheiden, sondern nur noch zu respektieren.
KNA: In der Stellungnahme heißt es aber doch, "Hauptmotiv" der Behandlung sei die Herbeiführung der Schwangerschaft, die dann die "Verwerfung" eines schwer geschädigten Embryos begründen könne?
Spaemann: Auch dieses Argument ist wertlos. Keine Frau hat ein Recht auf Schwangerschaft, wenn der Preis für die Empfängnis eines Kindes die Tötung eines anderen Kindes ist.
KNA: Anders als beim Schwangerschaftsabbruch oder einer Pränataldiagnostik, bei denen jeweils Mutter und Kind untrennbar miteinander verbunden sind, wird der frühe Embryo - auch in der Leopoldina-Stellungnahme - bei der PID zum eigenständigen Objekt neben dem Subjekt der entscheidenden Mutter. Was bedeutet das?
Spaemann: Es stimmt wohl, dass die Akzeptanz eines Kindes selbstverständlicher ist, wenn das Kind seine Existenz nicht einer objektivierenden Manipulation verdankt, sondern einer natürlichen Zeugung. Dadurch wird der Embryo stärker als eigenständiges Wesen wahrgenommen. Die katholische Kirche lehnt deshalb auch die In-Vitro-Befruchtung als gegen das göttliche Gesetz verstoßend ab.
Aber das ändert doch nichts daran, dass es sich nicht um die Eigenständigkeit von Objekten, sondern von Subjekten handelt.
KNA: Bei der Vorstellung der Stellungnahme sprachen mehrere Wissenschaftler dem frühen Embryo den vollen Würdeschutz ab und bewerteten die Redeweise "Embryo" als Folge einer "laienhaften Kommunikation"....
Spaemann: Was das Wort "Würde" auch im Einzelnen bedeuten und für Konnotationen haben mag, eines jedenfalls bedeutet es vor allem: Alles, was mit einem solchen Wesen getan wird, muss nicht nur im Interesse der Eltern, sondern vor allem in seinem eigenen Interesse liegen. Der menschliche Embryo ist bereits "Selbstzweck", propter seipsum existens, um seiner selbst willen existierend, wie Thomas von Aquin sagt und worin Kant mit ihm einig ist.
KNA: Sind die Vorgaben des Embryonenschutzgesetzes de facto schon Makulatur?
Spaemann: Ich fürchte, das muss man sagen.
KNA: Die Autoren beklagen, dass die "mit der PID verbundene und unverzichtbare Auswahlentscheidung der Frau in Deutschland noch nicht die gesetzliche Anerkennung gefunden hat". Ist bei diesem Thema "Auswahlentscheidung" der angemessene Sprachgebrauch?
Spaemann: "Auswahlentscheidung" ist ein anderes Wort für "Selektion", frühzeitige Eliminierung "lebensunwerten Lebens". Dass das, wie Behindertenverbände fürchten, zu einer Diskriminierung der Eltern von Behinderten und von Behinderten selbst führen wird, diese Gefahr erwähnen die Verfasser der Stellungnahme der Leopoldina selbst, um dann allerdings schlicht zu sagen: "Einem respektlosen Verhalten gegen Menschen mit Behinderungen oder gegen ihre Eltern ist jedenfalls entgegenzuwirken." Auf einmal verlässt sie die wissenschaftliche Haltung. Einer voraussehbaren sozialpsychologischen Konsequenz haben sie nichts entgegenzusetzen als einen ohnmächtigen moralischen Appell.
KNA: Welchen Stellenwert sollte man der Bewertung einer ethischen Grundfrage wie PID durch eine naturwissenschaftlich ausgerichtete Akademie zuerkennen?
Spaemann: In Fragen dieser Art, in Fragen von Gut und Böse, gibt es keine wissenschaftliche Kompetenz, an die der wissenschaftliche Laie seinen gesunden Menschenverstand abtreten müsste. Die Frage, um die es hier geht, ist keine naturwissenschaftliche und keine medizinische. Physiker sagen uns, wie eine Atombombe funktioniert.
Ob man eine solche Bombe unter Umständen auf eine bewohnte Stadt werfen darf, kann der Physiker nicht besser beantworten als jeder vernünftige und gewissenhafte Mensch. Wer sich professionell mit solchen Fragen beschäftigt, ist die Philosophie. Aber es zeigt sich, dass die Philosophen zwar über ein argumentatives Reservoir verfügen, um solche Fragen diskutierbar zu machen. An den Ergebnissen aber zeigt sich, dass der Dissens zwischen ihnen nur auf höherem Niveau den Dissens unter den Nicht-Philosophen reproduziert.
KNA: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Gewissen der Frau?
Spaemann: Die Verfasser der Stellungnahme sehen dies als letzte Legitimationsinstanz an. Sie wollen auch diejenigen Gewissen respektieren, deren Urteil durch religiöse Überzeugungen geprägt ist, und sie gestehen den Kirchen das Recht zu einer solchen Gewissensbildung zu. Der Staat aber habe sich bei Gewissensentscheidungen herauszuhalten. Das ist nur teilweise richtig. Schon die heute beliebte Rede von Gewissensentscheidungen ist irreführend. Das Gewissen entscheidet nichts. Das Gewissen fällt ein mehr oder weniger begründbares Urteil. Der Wille des Menschen ist es, der entscheidet, und dies in Übereinstimmung oder auch in Nicht-Übereinstimmung mit seinem Gewissen.
Das Gewissensurteil wird geformt durch verschiedene Faktoren:
Tradition, Autorität, Neigung und - vor allem - vernünftige Gründe, also Vernunft. Das Gewissensurteil muss keineswegs immer respektiert werden. Als der Staat die Sklaverei verbot, fragte er nicht, ob die Freilassung der Sklaven vielleicht vom Gewissen des Sklavenhalters verboten war. Himmler lobte die judenmordenden SS-Leute wegen ihrer heroischen Selbstlosigkeit und Gewissenhaftigkeit, wegen ihrer "Anständigkeit".
Aufgabe eines Rechtsstaates ist es, den Menschen vor dem Menschen zu schützen, und zwar ohne Rücksicht auf die Frage, ob der tätige Missachter der Menschenrechte in Übereinstimmung mit seinem Gewissen handelt oder nicht. Außerdem muss man unterscheiden zwischen dem, was das Gewissen erlaubt, und dem, was es gebietet. Die Vielehe ist Moslems und Mormonen von ihrer Religion erlaubt. Dennoch kann der Staat sie verbieten. Moslems und Mormonen werden von ihrer Religion nicht gezwungen zur Vielehe, so dass sie nicht gegen ihr Gewissen handeln, wenn sie, dem Gesetz folgend, darauf verzichten. In dem Zusammenhang dieses Gesprächs möchte ich darauf hinweisen, dass, wo vom "Gewissen der Frau" die Rede ist, fast immer nur die Gewissenserlaubnis und nicht ein Gewissensgebot gemeint ist. Wenn jemandem sein Gewissen etwas erlaubt, heißt das nicht, sein Gewissen werde missachtet, wenn der Staat verbietet, was ohne dieses staatliche Gesetz das Gewissen erlauben würde.