DOMRADIO.DE: Sie sprechen hinsichtlich von Herkunft und Bedeutung des Begriffs "Christliches Abendland" auch von Missverständen. Was wird da missverstanden?
Prof. Dr. Dr. Otfried Höffe (emeritierter Tübinger Philosophie-Professor): Der Ausdruck lässt glauben, dass das Abendland von Beginn an bis heute christlich geprägt sei. In Wahrheit beginnt das Abendland bei den Griechen und setzt sich in Rom fort, also in zwei heidnischen und vorchristlichen Kulturen. Das Reformjudentum, das Christentum nimmt den Ursprung nicht im Abendland, sondern außerhalb in Jerusalem.
DOMRADIO.DE: Die Spuren christlicher Kultur in Europa lassen sich zum Beispiel in Bauwerken oder auch in der Sonn- und Feiertagskultur finden. Aber wie ist das eigentlich mit dem unsichtbaren christlichen Erbe Europas?
Höffe: Zunächst einmal möchte ich betonen: Europa ist zweifellos stark vom Christentum geprägt. Das ist schon in der Architektur sichtbar, in den Kirchen, oft Kleinodien, in der Baukunst und ferner in den Feiertagen, die wir pflegen. Auch Atheisten und Nicht-Christen werden den Einfluss des Christentums auf die Musik, die Gregorianik, auf Messvertonungen, auf die gesellschaftliche Moral – beispielsweise kann man die Solidarität teilweise als säkularisierte Nächstenliebe verstehen – nicht leugnen.
Der Gedanke der Gottesbildlichkeit hat später zum Gedanken von Menschenwürde und Menschenrechten geführt mit der Einschränkung, dass die Menschenrechte von den Großkirchen lange Zeit nicht gerade befürwortet wurden und die Gleichberechtigung von Mann und Frau noch zu verbessern wäre. Hier ist kein Ruhmesblatt der etablierten Kirchen. Gleichwohl: Europa ist stark vom Christentum geprägt.
DOMRADIO.DE: Der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer wirft ein, dass der christliche Glaube die Seele Europas sei. Nur deshalb habe Europa zum Beispiel der Ursprungsort der wissenschaftlichen Welterklärung mit den Mitteln der menschlichen Vernunft werden können. Kann man sich diese Entwicklung Europas auch ohne das Christentum vorstellen?
Höffe: Die Wissenschaft ist in Griechenland entstanden, mit Vorläufern außerhalb von Griechenland und ganz sicher nicht im Christentum. Und bei Augustinus, bei Thomas von Aquin gab es gewisse Vorbehalte gegen ein unzensiertes wissenschaftliches Forschen. Das sieht ganz anders aus. Rechtsstaatlichkeit, Volkssouveränität, Gewaltenteilung und den zu Grundrechten positivierten Menschenrechten, das ist eine Entwicklung, die auch vom Christentum unabhängig ist, wenn sie auch später von ihm mitgeprägt ist.
Man muss Schwierigkeiten haben, wenn man so denkt wie der genannte Regensburger Bischof. Auch das nationale Wirtschaftsdenken stammt nicht aus christlichem Denken. Allenfalls kann man sagen, dass der Sozialstaat als Korrektiv zum freien Markt gewisse christliche Inspirationsquellen hat, aber auch nur gewisse.
DOMRADIO.DE: Deswegen entwickelt sich gerade eine Alternative zu diesem Begriff, und zwar der Begriff "Kultur des Westens" – Ist das eine Alternative, was denken Sie?
Höffe: Da bleibt wiederum "Kultur des Westens" insofern nicht ganz zutreffend, weil Jerusalem, das Reformjudentum, das in der genannten Weise unsere Kultur mitbestimmt, eben nicht aus dem Westen kommt. Insofern habe ich da Bedenken. Bei "Kultur" müsste man sich überlegen, was damit alles gemeint ist. Wenn man das sehr weit nimmt, sozusagen die Lebensverhältnisse, unsere konstitutionellen Demokratien, einschließlich Menschenrechte, Wissenschaft und Medizin, Technik, zunächst auch das rationale Wirtschaftsdenken und die Sozialstaatlichkeit, dann könnte man das durchaus so formulieren.
Man muss es dann nicht als Gegenbegriff zum christlichen Abendland nehmen. Aber als notwendiges Korrektiv. Denn – noch einmal – Christliches Abendland verkürzt die Wirklichkeit und zwar sowohl die heutige, als auch die der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung.
DOMRADIO.DE: Für welchen Begriff würden Sie sich denn aussprechen?
Höffe: Ich würde von einer gemeinsamen europäischen Kultur sprechen und insofern auch den Ausdruck "Abendland" zurückhaltend verwenden. Eine gemeinsame europäische Kultur, die aber über Europa hinaus wirkt. Eine gewisse Fortsetzung - das dürfen wir nicht vergessen - hat sich in den USA und in Kanada entwickelt, beziehungsweise auch in Iberoamerika. Und bestimmte Teile, unter anderem die rationale Wissenschaft und die dahinter steckende unzensierte Neugier, findet sich inzwischen in aller Welt. In allen Universitäten der Welt wird dieselbe Mathematik, dieselbe Molekularbiologie und dieselbe Physik gelehrt.
Überall, sofern sie nicht eingeschränkt sind, werden Geistes- und Sozialwissenschaften gepflegt. Medizin und Technik ohnehin. Hier kann man von einem Siegeszug europäischer Wurzeln sprechen. Aber ein Siegeszug im Sinne des "Kommet und seht. Schaut her: das ist eine vernünftiger Art, Wissenschaft zu betreiben." Die meisten werden davon ohne Widerstände überzeugt. Dann betreiben sie entweder dieselbe Wissenschaft oder kommen sogar nach Europa, um an den hiesigen Hochschulen zu studieren.
Das Interview führte Beatrice Steinecke.