DOMRADIO.DE: Das Land Polen ist tief gespalten. Zurzeit gibt es überall im Land Proteste gegen das neue, verschärfte Abtreibungsrecht. Die katholischen Bischöfe begrüßten die neue Gesetzgebung, die auch bei Fehlbildungen des Fötus Abtreibungen verbietet. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Geschichte Polens. Wie war es im kommunistischen Polen? War da die Abtreibung generell erlaubt?
Jörg Basten (Länderreferent für Polen bei Renovabis): Im kommunistischen Polen war es so wie in allen übrigen Ostblockstaaten, dass Abtreibungen als ganz normaler Teil der Familienplanung angesehen wurden. Vor allen Dingen auch aufgrund der fehlenden Verhütungsmittel.
DOMRADIO.DE: Nun ist die Gesetzgebung, die Abtreibung verbietet, verschärft worden. Aber nach der Wende hatte sich das auch schon geändert. Abtreibungen wurden verboten, aber waren noch in Ausnahmefällen erlaubt.
Basten: Es gibt im Augenblick zwei Gründe für Abtreibungen. Und zwar einerseits die sogenannte medizinische Indikation, wenn der Fötus mit schweren Fehlbildungen bemängelt ist. Und andererseits, wenn schwere Straftaten im Zusammenhang mit der Zeugung passiert sind.
DOMRADIO.DE: Wie sehr hat die Verschärfung der Gesetzgebung die Stimmung im Land aufgeheizt? Es soll sogar dazu aufgerufen worden sein, Kirchen zu besetzen, heißt es.
Basten: Das ist richtig. 2019 wurden etwa 1.200 Abtreibungen in Polen vorgenommen, davon 97 Prozent aufgrund der medizinischen Indikation. Jetzt hat das Verfassungsgericht angemahnt, dass das bestehende Gesetz nicht verfassungskonform sei und man die medizinische Indikation kippen müsse. Das heißt also, dass bei 97 Prozent der Abtreibungen in Zukunft keine Abtreibung möglich wäre. Das bedeutet natürlich für betroffene Frauen, dass sie andere Wege suchen müssen. Die Furcht besteht darin, dass man dann in die Illegalität abdriftet, die für beide natürlich sehr gefährlich ist.
Die katholische Kirche hat sich immer wieder, auch in der Vergangenheit, zu Wort gemeldet im Hinblick auf den Schutz des Lebens. Es gehöre zu ihren Aufgaben das Leben zu schützen, von der Zeugung bis zum Tod. Man muss auch sagen, dass in der polnischen Realität die Kirche auch sehr viel für behinderte Menschen tut. Es gibt sehr viele, gerade auch von Schwestern geführte, stationäre und ambulante Einrichtungen, in denen solche schwerstbehinderten Menschen aufgenommen und versorgt werden. Und es gibt ein sehr ausgebreitetes System von Babyklappen, organisiert von kirchlichen Initiativen, die sich um Kinder, die im Grunde nicht gewollt sind, zusammen mit den Jugendämtern kümmern.
DOMRADIO.DE: Aber jetzt wird auf den Straßen demonstriert. Es sind vor allen Dingen Frauen, die demonstrieren, oder?
Basten: Ja, es sind vor allen Dingen Frauen und zwar landesweit. Das ist eine Initiative, die es 2016 schon mal gegeben hat, als es im Raum stand, das Abtreibungsrecht zu verschärfen. Damals haben Zehntausende von Frauen demonstriert und haben die Verschärfung auch verhindern können. Jetzt sind es 10.000 in Warschau, die demonstriert haben. Es gibt tatsächlich eine Spaltung zwischen "Pro Life" und "Pro Choice". Wobei man sagen muss, dass, was die Bevölkerung angeht, 50 Prozent gegen eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes sind und etwa nur 15 Prozent der Bevölkerung für eine Verschärfung.
DOMRADIO.DE: Die Bischöfe haben sich klar positioniert. Können Sie uns diese Position beschreiben?
Basten: Der Vorsitzende der Bischofskonferenz Stanisław Gądecki hat sich zu Wort gemeldet und darauf hingewiesen, dass man den gesellschaftlichen Dialog führen müsse, um die Rechte des Kindes und die Rechte der Frauen zu schützen. Ähnlich hat sich der Primas von Polen geäußert, Erzbischof Wojciech Polak, der angemahnt hat, dass man keine Spaltung in der Gesellschaft zulassen solle. Gleichwohl muss man sagen, dass einige der Bischöfe immer wieder angemahnt haben, das llberale Abtreibungsgesetz zu verschärfen.
DOMRADIO.DE: Treibt denn das verschärfte Abtreibungsgesetz nicht auch viele Frauen in die Illegalität?
Basten: Das ist richtig. Die Frauen treiben dann nicht in Polen ab, sondern sind gezwungen, illegal über die Grenzen zu reisen, nach Deutschland, Russland oder in die Ukraine oder es von "Quacksalbern" machen zu lassen. Die Dunkelziffer wird auf 70.000 bis 150.000 geschätzt.
DOMRADIO.DE: Inwieweit ist dieser Streit um das Abtreibungsrecht auch ein Streit um den Weg der polnischen Gesellschaft in die Zukunft? Also eine Auseinandersetzung zwischen den traditionellen und den liberalen Kräften?
Basten: Das ist sicherlich ein Teil davon, dass die polnische Gesellschaft sich immer mehr in eine offene Gesellschaft entwickelt, in der es viele Stimmen gibt, die sich gemeinsam zu Wort melden und sich in einem Diskurs an ihrer Durchsetzungskraft versuchen. Die Kirche ist dabei auch nur noch ein Teil und nicht mehr einziger Bestimmer.
DOMRADIO.DE: Wohin entwickelt sich die katholische Kirche in Polen? Sind die Gläubigen auch im Zwiespalt zwischen Traditionalisten und Reformern?
Basten: Über 90 Prozent der Polen sind katholisch. Das heißt alles, was in der Gesellschaft passiert, passiert eben auch in der Kirche. Wenn ich eben gesagt habe, dass 50 Prozent der Bevölkerung für die Beibehaltung des jetzigen liberalen Abtreibungsgesetzes sind, dann heißt das, dass auch ein großer Anteil Katholiken dabei ist. Alle Spaltungen, die es in der polnischen Gesellschaft gibt, gibt es sicherlich auch in der katholischen Kirche.
Das Interview führte Dagmar Peters.