domradio.de: Der IS hat im vergangenen Jahr mehrere Anschläge in der Türkei verübt. Steigt denn jetzt nach diesem Anschlag die Angst noch mehr?
Lale Agkün (SPD-Politikerin, geboren in Istanbul): Ich glaube, die Angst ist schon sehr lange da. Die wird auch in der nächsten Zeit nicht verschwinden, denn die Terrormiliz IS muss ja zeigen: Wir sind da, wir sind nicht weg. Dafür eignen sich natürlich vor allem touristische Ziele.
domradio.de: Wie deuten Sie die Urheberschaft dieses Attentates? Die türkische Regierung weist die Tat ja schon dem IS zu. Das ist so von anderer Seite - vom IS selbst - noch nicht bestätigt.
Akgün: Ich glaube schon, dass es ein IS-Attentäter war. Die Art des Anschlags spricht dafür und auch, dass man versucht 'möglichst viele Ungläubige mitzunehmen', also eine solche Tat in einer Touristengruppe verübt. Und man versucht eben, mit diesem Anschlag sowohl die Türkei zu treffen, die ja nachweislich nicht mehr so für Nachschub sorgt also auch Deutschland, weil ja Deutschland jetzt auch in der Allianz gegen den IS kämpft.
domradio.de: Bisher hat sich die Terrormiliz meist auf kurdische Ziele konzentriert. Jetzt war es also ein Anschlag auf Touristen. Wie ist das Ihrerseits einzuschätzen - wirklich als unmittelbare Reaktion auf den deutschen Eingriff?
Akgün: Ich würde sagen, ich glaube nicht, dass die deutsche Gruppe ein Zufall war. Das war schon ausgesucht. Auf der anderen Seite ist es natürlich so: Je mehr sie touristische Ziele ins Visier nehmen, umso mehr treffen sie auch das Land. Die Türkei ist auf die Devisen aus dem Tourismus angewiesen. Nach dem Eklat zwischen Erdogan und Putin bleiben die russischen Touristen weg. Wenn jetzt auch die deutschen Touristen wegbleiben, wäre das ein Schlag für die Türkei. Das hat schon System, dass man nicht mehr nur in den kurdischen Gebieten zuschlägt, sondern da, wo sich auch das normale Leben mit den Touristen abspielt.
domradio.de: Der Anschlagsort gestern war ja nicht nur in der Nähe touristischer Ziele, sondern auch in der Nähe religiöser Ziele; in der Umgebung der Hagia Sophia, der Blauen Moschee. Ist das Zufall?
Akgün: Ich persönlich würde da jetzt nicht so viel reininterpretieren. Ich würde eher sagen, dass man gedacht hat: Da halten sich die allermeisten Touristen auf. Und je interessanter ein Ziel touristisch ist, desto mehr Menschen erwischen wir. So zynisch das klingt - das könnte eigentlich mehr Kalkül gewesen sein, als zu sagen: Wir spielen jetzt mit Hagia Sophia. Natürlich ist die Hagia Sophia immer ein Thema - auch bei den türkischen Fundamentalisten. Immer wieder wird darüber geredet, diese ehemalige Kirche, dann Moschee, jetzt Museum, wieder zu einer Moschee zu machen. Übrigens ist das ein ganz wichtiger Streitpunkt zwischen sekularen und fundamentalistischen Muslimen. Aber ich deute das eher als zweitrangig. Ich glaube, an erster Stelle war die Frage: Wo halten sich die meisten Touristen auf.
domradio.de: Die Türkei ist im Kampf gegen den IS aber auch im Kampf gegen die PKK. Wie ist Ihre Einschätzung - wird sich die Türkei jetzt klarer positionieren im Kampf gegen den IS?
Akgün: Ich glaube, dass die Türkei in einer wirklich schwierigen Situation steckt. Erdogan hat ja nach zehn eher friedlichen Jahren den Friedensprozess mit den Kurden abgebrochen und steigert sich immer mehr hinein. Wir wissen, dass in den östlichen Gebieten der Türkei auch die Zivilbevölkerung sehr unter den Anschlägen des Militärs leidet. Erdogan macht aber überhaupt keine Kompromisse. Nein, er redet davon, dass man noch viel intensiver zuschlagen muss, sie alle ausrotten muss. Also auch die Sprache ist sehr brachial. Auch die PKK hat damit gedroht, den Kampf in den Westen zu tragen. Es ist natürlich auch der Kampf gegen den IS da. Die Unzufriedenheit in der normalen Bevölkerung wächst, weil auch der Lebensstandard sinkt. Also insgesamt befindet sich die Türkei auf einem sehr unglücklichen Weg. Das tut weder den Menschen gut, noch der Demokratisierung. Und letztendlich wird es auch irgendwann Auswirkungen auf uns haben. Denn ich glaube, wenn es so weitergeht, geht es nicht nur um die Flüchtlinge aus Syrien, die sich in der Türkei aufhalten. Irgendwann, wenn das so eskaliert, werden wir auch mit kurdischen und auch mit türkischen Flüchtlingen in Deutschland rechnen müssen.
Das Interview führte Daniel Hauser.