domradio.de: Wie schätzen Sie das ein? Welche Konsequenzen hat die Wahl Erdogans für die türkische Community in Deutschland?
Lale Akgün (SPD-Politikerin und Türkeiexpertin): Das muss man sich genauer anschauen, weil es für mich sehr viele Konsequenzen mit sich bringt. Zum einen glaube ich, dass sich die Polarisierung zwischen den Anhängern von Erdogan und den säkularen Demokraten, die ihn als Person und das, wofür er steht, ablehnen, nicht so einfach zuschütten lässt. Das kann auch nicht sein, denn auf der einen Seite steht ein Diktator, der sagt, dass alle Macht und das Land ihm gehören, weil er es sich zur Beute gemacht habe. Auf der anderen Seite stehen Menschen, die Verwandte im Gefängnis haben oder Verwandte haben, die in der Türkei enteignet werden und Angst haben, ihre Meinung zu äußern. Wie sollen da die Gräben zugeschüttet werden?
Zudem ist meine Sorge, dass sich Erdogan in den nächsten Monaten immer mehr zu dem aufspielen wird, wofür er losgelaufen ist. Er will ja der Führer der islamischen Welt werden. Ich habe die Befürchtung, dass diese Alleinherrschaft in der Türkei für ihn nur eine Zwischenetappe ist. Es geht ihm darum, das Osmanische Reich wiederherzustellen und zum Kalifen der islamischen Welt aufzusteigen. Das heißt, er möchte politische und religiöse Macht auf sich vereinen.
Jetzt haben wir in Deutschland rund 450.000 Menschen, die für ihn gestimmt haben. Diese Menschen könnte er für diese Ziele instrumentalisieren. Und das ist eine Gefahr, denn diese Menschen könnten ihn in Deutschland unterstützen, den politischen Islam noch mehr zu etablieren.
domradio.de: Was bedeutet denn der Ausgang des Referendums für die Christen in der Türkei, die ohnehin eine kleine Minderheit sind?
Akgün: Nicht nur für die Christen, sondern auch für die Aleviten und Linken, also alle, die nicht sunnitisch sind, wird es in der Türkei in den nächsten Monaten und Jahren sehr schwierig werden. Die Parole von Erdogan lautet: Assimilieren oder Weggehen. Er will das Osmanische Reich wieder einführen, was heißt, dass christliche Minderheiten wieder zu Schutzbefohlenen werden, die zusätzliche Steuern zahlen müssen, damit sie den Schutz des Staates genießen. Das wäre kein säkularer Rechtsstaat mehr, sondern ein religiöser Staat, in dem Andersgläubige eine marginale Stellung hätten.
Unter den Umständen ist natürlich darüber nachzudenken, wie Christen in der Türkei mit diesem Thema umgehen. Die Christen sind eine sehr kleine Minderheit, aber noch viel schwieriger sehe ich die Situation für die Aleviten, die ja fast 20 Millionen Bürger in der Türkei darstellen. Auch denen wird immer wieder gesagt, sie sollen sich anpassen oder das Land verlassen. Was soll denn mit den Menschen passieren, die sich nicht anpassen wollen? Ein Staat mit politisch islamischer Ausrichtung bereitet Andersgläubigen und Nichtgläubigen viele Probleme und wird diesen Menschen das Leben vor Ort sehr schwer machen.
domradio.de: Sollte Erdogan im nächsten Schritt die Todesstrafe einführen, wäre das der Todesstoß für sämtliche europäischen Ambitionen des Landes?
Akgün: Das ist sicherlich der letzte Punkt, an dem es dann kein Fortkommen mehr gibt. Ich weiß auch gar nicht, ob Erdogan weiter mit der EU verhandeln möchte, denn er sagt schon seit langem, dass er ein Referendum über die Fortführung der Verhandlung über einen EU-Beitritt der Türkei durchführen lassen möchte. Das alles vor dem Hintergrund betrachtet, dass das Referendum zu Ungunsten der EU ausgehen könnte.
Ich glaube, er will wie immer als großartiger Übervater das Gesicht behalten. Und bevor sich die EU darüber einig wird, ob sie die Verhandlungen einfriert oder abbricht, sagt die Türkei, dass sie die Verhandlungen gar nicht mehr will. Erdogan wird der Sache zuvorkommen. Aber die Art, wie er mit den europäischen Institutionen umgeht, wie er permanent die deutsche Demokratie verhöhnt, ist eigentlich nicht mehr hinzunehmen. Letztendlich wäre die Einführung der Todesstrafe ein solcher Schlag ins Gesicht der Kopenhagener Kriterien, der europäischen Menschenrechtswerte, dass eine weitere Verhandlung nicht mehr möglich wäre.
Das Interview führte Hilde Regeniter.