Evangelischer Pressdienst (epd): Die Unionsparteien haben sich für die Sondierungsgespräche und möglichen Koalitionsverhandlungen mit FDP und Grünen auf ein sogenanntes Regelwerk zur Migration geeinigt. Das Wort "Obergrenze" kommt nicht mehr vor, die Zahl der in Deutschland aufzunehmenden Menschen soll aber trotzdem die Grenze von 200.000 pro Jahr nicht überschreiten. Halten Sie diesen Kurs für richtig?
Manfred Rekowski (Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und Vorsitzender der Kammer für Migration und Integration der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)): Die Feststellung von CDU und CSU, dass das Asylrecht keine Quotierung und keine Obergrenze zulässt, ist ein Fortschritt. Ich begrüße die Klarstellung der Unionsparteien, dass diese humanitäre und rechtliche Verpflichtung anerkannt wird. Bei Nächstenliebe und Barmherzigkeit kann es keine Abstriche geben.
Flucht ist ein Weltproblem, bei dessen Lösung die Völkergemeinschaft Verantwortung übernehmen muss. Auch in Deutschland müssen wir darüber reden, wie und wo wir Menschen helfen können, die in Not sind. Diese Hilfe ist teilweise in unserem Land möglich, wo meines Erachtens noch mehr Entschlossenheit bei der Integration nötig ist. Uns muss aber auch die Situation der Menschen in Lampedusa, Lesbos, Marokko oder der Sahara interessieren. Verschiedene Gruppen Geflüchteter dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Darüber hinaus halte ich ein Zuwanderungsgesetz für absolut nötig. Seit fast zwei Jahrzehnten ist klar, dass wir aufgrund des Bevölkerungsrückgangs eine Regelung der Einwanderung brauchen. Es wäre ein fatales Versäumnis, wenn man diese Gestaltungsaufgabe dem Zufall überlassen würde. In Ermangelung einer Regelung wird das Asylrecht überstrapaziert, weil Menschen darin den einzigen Zugang sehen. Bereits die Diskussion über ein Zuwanderungsgesetz könnte dem gesellschaftlichen Frieden dienen, weil man zu einem gesellschaftlichen und politischen Konsens kommen muss, welche Menschen in welcher Anzahl und zu welchen Bedingungen nach Deutschland einwandern können.
epd: Als Hauptziel eines solchen Gesetzes wird häufig genannt, den hiesigen Bedarf an Fachkräften zu decken.
Rekowski: Ein Zuwanderungsgesetz darf sich nicht nur an den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktes orientieren. Wir haben auch eine Verantwortung für die Länder, aus denen Menschen zuwandern. Es wäre kurzsichtig, alle qualifizierten Facharbeiter und Akademiker abzuschöpfen aus Ländern, die dringend eine eigene Entwicklung brauchen.
Wenn sich in den Herkunftsländern die Perspektiven dadurch verschlechtern, dass Eliten abwandern, wäre das fatal. Die humanitären Verpflichtungen - das, was wir Christinnen und Christen mit Nächstenliebe bezeichnen - sind nicht auf unser Land begrenzbar.
epd: Die Asylverfahren für alle neu ankommenden Flüchtlinge sollen nach dem Willen von CDU und CSU künftig in sogenannten Entscheidungs- und Rückführungszentren stattfinden. Ist das sinnvoll?
Rekowski: Mir fehlt die Fantasie, wie das funktionieren soll angesichts der meist langen Verfahrensdauer und häufigen rechtlichen Auseinandersetzungen. Ich habe außerdem erhebliche Zweifel, ob in einem solchen Rahmen die Menschenwürde gewahrt bleibt.
epd: Was halten Sie von dem Vorhaben, den Familiennachzug für Flüchtlinge weiter auszusetzen, die nur subsidiär geschützt sind?
Rekowski: Das überzeugt mich nicht. Menschen, die im Familienverbund leben, sind besser in das soziale Netz insgesamt eingebunden als allein lebende Menschen, die permanent von ihrer Familie getrennt sind und sich um ihre Angehörigen sorgen. Die Familie genießt im christlichen Verständnis und auch in unserem Grundgesetz eine hohe Wertschätzung. Das muss auch für Flüchtlinge gelten.