Pro Asyl kritisiert Schulz' Flüchtlingswarnung

"Das ist problematisch, das zu thematisieren"

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz warnt vor einer neuen Flüchtlingskrise, so ähnlich wie vor zwei Jahren. Es gibt in Europa keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise des Flüchtlingsschutzes, sagt der Europareferent bei Pro Asyl Karl Kopp.

Energisch auf dem SPD-Parteitag: Martin Schulz / © Guido Kirchner (dpa)
Energisch auf dem SPD-Parteitag: Martin Schulz / © Guido Kirchner ( dpa )

domradio.de: Schulz hat mit seiner Äußerung eine Diskussion ausgelöst, er instrumentalisiere das Thema im Wahlkampf. Er verwehrt sich gegen Vorwürfe dieser Art und verweist auf die dramatische Situation auf dem Mittelmeer und in der Folge in den Aufnahmelagern Italiens. Hat Herr Schulz in Ihren Augen mit seinen Befürchtungen Recht?

Karl Kopp (Europareferent bei Pro Asyl): Teils, teils. Zum einen hat es einen alarmistischen Tonfall und es hat sicher auch den Ansatz, dass er ein neues Thema besetzen will. Das ist problematisch, denn Flüchtlingsthema im Wahlkampf zu thematisieren wird eher rechte Ansätze stärken. Beim Vergleich mit 2015 hat er nicht Recht.

domradio.de: Warum?

Kopp: Wir haben einfach ungleich viel weniger Ankünfte, also Bootsflüchtlinge, die nach Italien oder nach Griechenland kommen. Das sind knapp über 110.000 insgesamt mit Zypern und Spanien mitgerechnet. Das Kernproblem ist wirklich, dass wir weniger eine Flüchtlingskrise in Europa haben, die ist eher in den Drittstaaten, im Libanon und anderswo. Wir haben eine Krise des Flüchtlingsschutzes. Wir haben vor allem ein tausendfaches Sterben im Mittelmeer. Das sind die Themen denen, man sich stellen muss und da ist Schulz nicht konsequent, auch nicht bei der Solidarität, weil er sagt, Solidarität sei wichtig, aber wir sind außen vor, die anderen sollen aufnehmen. So funktioniert solidarische Aufnahme in Europa nicht.

domradio.de: Jetzt landen die Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kommen fast alle in Italien. Viele Lager sind überlastet. Italien braucht Hilfe. Wie müsste die in Ihren Augen idealer Weise aussehen?

Kopp: Es gibt schon bestehende Instrumente der Europäischen Union. Man hat im September 2015 beschlossen Italien und Griechenland zu entlasten und Schutzsuchende umzuverteilen. Das nennt man "relocation". Da hat sich Deutschland damals verpflichtet, 27.500 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland aufzunehmen. Aktuell hat man aus Italien knapp 3.000 und aus Griechenland 3.700 aufgenommen, aber eigentlich wollte man bis September all diese Menschen aufgenommen haben. Das heißt, man kann viel mehr tun, wenn man sich an geltendes Recht oder geltende europäische Beschlüsse hält.

domradio.de: Das heißt konkret?

Kopp: Da ist auch Deutschland gefordert. Man kann umgekehrt aufhören, im Rahmen der Asylzuständigkeit Dublin, nach Italien zurückzuschieben. Es gibt viele Maßnahmen. Solidarität sollte man nicht nur anderen zuweisen, sondern es braucht auch Deutschland da drin. Das Bedauerliche heute ist – und das ist der Unterschied zu 2015 – wir haben weniger Flüchtlinge, wir haben mehr Tote, schon 2.300 in den ersten sechseinhalb Monaten. Wir haben keine Koalition der Willigen mehr. Deutschland war willig damals. Österreich war willig. Schweden war willig. Aber das ist heute nicht mehr der Fall. Der österreichische Außenminister ist heute ein Hardliner. Er ist praktisch der Sprecher der Rechtspopulisten in Europa. Deutschland sagt auch "nie wieder 2015" und ist eher auf Abschottung gebürstet. Schweden ist auch kollabiert und ist eher restriktiv drauf.  Das heißt, wir haben heute eine dramatischere Situation bezogen auf die Menschenrechtslage oder die Flüchtlingsrechtslage in Europa.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Quelle:
DR