Exakt 404 Tage verbrachte Kardinal George Pell von seiner Verurteilung als Sexualstraftäter bis zu seinem Freispruch aus Mangel an Beweisen durch das oberste Gericht Australiens hinter Gittern. Für seine zahlreichen Freunde ist Pell, einst einer der mächtigsten Männer im Vatikan, das Opfer einer Justizposse. Für seine ebenso zahlreichen Gegner bleibt der 79-Jährige das Symbol für alles, was in der katholischen Kirche in Australien im Umgang mit Fällen von sexuellem Missbrauch falsch gelaufen ist. Jetzt erscheint der erste Band seines "Gefängnistagebuchs".
Marketingmaschine läuft
Seit Wochen läuft die Marketingmaschine von Ignatius Press, einem katholischen Verlag mit Hauptsitz im US-amerikanischen San Franciso, auf Hochtouren. In den Tageszeitungen Australiens war hingegen bislang so gut wie nichts über das Buch zu finden. Lediglich Andrew Bolt, einer der loyalsten Unterstützer von Pell, veröffentlichte schon am 23. November in der zum erzkonservativen Medienimperium der Murdoch-Familie gehörenden Tageszeitung "Herald Sun" eine überschwängliche Besprechung: "Seine Feinde sollten es lesen, um zu erfahren, wie verrückt es war, Pell zu solchen Verbrechen für fähig zu halten. Alle anderen sollten es lesen, um herauszufinden, warum dieses wunderbare Buch vielleicht der höhere Zweck ist, für den Pell gelitten hat."
Ignatius Press wartet unterdessen mit einer Reihe von Testimonials auf wie vom New Yorker Kardinal Timothy Dolan. Der schreibt über "Frauen und Männer mit einem unerschütterlichen Glauben, deren Hoffnung im Gefängnis geprüft" wurde und nennt als Beispiele "Jesus selbst, die Heiligen Petrus und Paulus, Ignatius von Antiochien, Ignatius Loyola, Edmund Campion, Thomas Morus, Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King Jr., Edith Stein, Walter Ciszek. Und endet mit: "Jetzt können wir der Litanei Kardinal George Pell hinzufügen."
Vorwürfe an die Gegner
Pell selbst stellt sich in dem Buch als ein wegen seines Glaubens und seiner Überzeugungen verfolgter Christ dar. Dabei lässt er Deutungsspielräume, indem er solche Aussagen in Frageform kleidet oder Freunde zitiert, die seine Kritiker, wie er ausführt, als Intriganten und Verschwörer darstellen würden, nur um ihn zu Fall zu bringen. Auch Justiz und Medien in Australien wirft er Einseitigkeit und Parteilichkeit vor - genauso wie jenen Kardinalskollegen, denen er während seiner Zeit als Finanzchef des Vatikan durch seinen Kampf gegen Korruption auf die Füße getreten sei.
Den Missbrauchsskandal nennt Pell "den schwersten Schlag, den die Kirche Australiens erlitten hat". Einmal mehr betont er, lange Zeit nichts davon gewusst zu haben. "Wenn irgendwer Mitte der 90er-Jahre von dem Ausmaß des Problems gewusst hat, dann hat er es nicht öffentlich oder mir im Vertrauen gesagt", schreibt Pell. Die staatliche Missbrauchskommission kam dagegen zu dem Schluss, Pell habe schon in den 80er-Jahren das Problem gekannt und sei an dessen Vertuschung beteiligt gewesen.
Über Politik und Kirche
Gedanken macht sich Pell auch über Politik und Papsttum. So lobt er in eigentümlicher Wortwahl den "(christlichen) Barbaren" Donald Trump. Der scheidende US-Präsident habe mit seinen Ernennungen zum Obersten Gericht dazu beigetragen, "den Vormarsch des Säkularismus verlangsamen". Mit Blick auf die Kirchenspitze schlägt Pell vor, zurückgetretene Päpste sollten in Zukunft als "Kardinal X, Papst Emeritus" wieder Mitglied im Kardinalskollegium sein können. Das liest sich wie eine dezente Sympathiebekundung an den emeritierten Papst Benedikt XVI. - und eine Spitze gegen dessen amtierenden Nachfolger Franziskus.
Neben Macht- und Kirchenpolitik gibt es jedoch auch emotionale Passagen im ersten Band des Gefängnistagebuchs. Ausführlich beschreibt Pell, der in jungen Jahren dem rauen Rugbysport zugetan war, den Alltag hinter Gittern, in dem plötzlich kleine Dinge große Freude bereiten können: ein Teekocher, das Zwitschern eines Vogels oder der Sieg der Rugbymannschaft "Tigers" aus Melbourne.