KNA: Herr Mansour, islamische Radikalisierung ist ein großes Thema. Wird genug dagegen getan?
Mansour: Es wird viel getan, aber das ist nicht ausreichend. Bei der Radikalisierung Jugendlicher geht es nicht nur darum, die nächste Bombe zu verhindern. Das ist natürlich wichtig, aber vor allem müssen wir die Wurzel bekämpfen - durch Präventionsarbeit. In diesem Bereich aber herrscht Chaos: Es gibt keine nationale Strategie, keine Klarheit darüber, was wir bekämpfen wollen, wer Partner dabei sein könnten und wer Teil des Problems ist. Diese Klarheit vermisse ich ebenso wie flächendeckende Angebote und Projekte zur langfristigen Präventionsarbeit.
KNA: Könnte eine Bundesstelle Prävention helfen, wie sie etwa die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özuguz, fordert?
Mansour: Ja - aber nicht bei ihr. Ich halte die Einstellungen von Frau Özuguz in punkto Deradikalisierung nicht für hilfreich. Eine zentrale Stelle dürfte das Problem nicht verharmlosen oder relativieren. Präventionsarbeit müsste als Jahrhundertaufgabe behandelt werden, die neue Pädagogik, neue Wege der Wertevermittlung und Integration erfordert.
KNA: Was passiert eigentlich, wenn sich beispielsweise besorgte Eltern an eine Beratungsstelle wenden?
Mansour: Zunächst müssen Lehrer und Eltern erfahren, dass es überhaupt Stellen gibt, an die sie sich wenden können. Viele Eltern wissen nichts von Hilfsstrukturen - und wenn, dann zögern sie häufig, ihre Sorgen jemandem anzuvertrauen. Wer bei unserer Beratungsstelle Hayat anruft, ist verunsichert. Zunächst gilt es dann herauszufinden, ob ein Jugendlicher sich tatsächlich radikalisiert, ob er vielleicht nur den Glauben wechseln möchte, inwiefern er radikale Rhetorik nutzt. Der Großteil unserer Arbeit besteht darin, für jeden Betroffenen ein individuelles Netzwerk aufzubauen - je nachdem, was positive Einflüsse und Bindungen sein könnten, welche Gründe hinter der Radikalisierung stecken, welche familiären Strukturen vorhanden sind.
KNA: Das erfordert sicher Expertise aus verschiedenen Richtungen?
Mansour: Richtig. Was hilft etwa ein Psychologe, der nichts über die Terrormiliz IS weiß, wenn genau deren Propaganda den Jugendlichen angesprochen hat? Daher braucht es ein Team aus Sozialarbeitern, Psychologen, Islamismusforschern. Das ist aber nur ein Teil der Deradikalisierungsarbeit. Daneben braucht es Beratung in Gefängnissen oder Ausstiegsarbeit mit Jugendlichen, die diesen Weg hinter sich lassen wollen.
KNA: Eine weitere Facette sind sogenannte Rückkehrer, die als Terrorkämpfer im Irak oder in Syrien aktiv waren. Manche Experten sehen bei ihnen stets die Gefahr eines Rückfalls. Wie schätzen Sie das ein?
Mansour: Rückkehrer sind sehr unterschiedlich. Manche kehren zurück, weil sie mit der Ideologie abgeschlossen haben. Andere sind traumatisiert und labil, wieder andere bleiben Anhänger der IS-Ideologie. Zunächst ist es Aufgabe der Justiz, herauszufinden, wofür Rückkehrer eventuell belangt werden müssen, und sie dafür bestrafen. Und natürlich müssen die Sicherheitsdienste alles tun, um mögliche Gefahren abzuwehren. Zugleich ist es wiederum entscheidend, den Rückkehrern eine individuell passende Begleitung anzubieten, um diesen Menschen einen emotionalen Zugang zu ihren Einstellungen zu ermöglichen. Nur wer das Erlebte reflektiert und eine Distanz dazu aufbaut, kann aus der Szene aussteigen. Dafür gibt es aber keine Erfolgsgarantie.
KNA: Welche Rolle spielt die Religion?
Mansour: Das Verständnis von Religion ist entscheidend in der Präventionsarbeit. Psychologische und soziologische Faktoren können nicht erklären, warum jüdische oder christliche Jugendliche sich nicht dem IS anschließen. Das tun Muslime mit einem bestimmten Verständnis des Islam - ob das theologisch fundiert ist, ist eine andere Frage. Es geht um ein fatales, falsches Verständnis von Religion, das Menschen entmündigt, Angst und Verschwörungstheorien verbreitet und Sexualität tabuisiert, das Opfer- und Feindbilder schafft und einen Exklusivitätsanspruch vertritt. All dies trägt zur Radikalisierung bei, und dieser Faktor muss in der Präventionsarbeit benannt werden.
KNA: Was erwarten Sie in dieser Hinsicht von den muslimischen Verbänden?
Mansour: Die muslimischen Verbände hatten in den vergangenen Jahren die Chance, sich schwierigen Fragen zu stellen und ein Islamverständnis zu präsentieren, das ohne Wenn und Aber hinter Demokratie und Menschenrechten steht. Die Ditib oder auch der Zentralrat der Muslime starten PR-Kampagnen unter dem Slogan "Terror hat mit dem Islam nichts zu tun", doch sie tun nichts. Sie müssten als religiöse Verbände wahrgenommen werden, aber angesichts dieser Entwicklung sind sie keine geeigneten Partner für Präventionsarbeit.