Was sagt der Koran über die Juden? Eine Frage, die derzeit in Frankreich für Diskussionen sorgt. Am vergangenen Wochenende veröffentlichten 300 Intellektuelle ein Manifest gegen einen "neuen Antisemitismus", der in manchen Gegenden zu einer fast geräuschlosen "ethnischen Säuberung" führe, weil Juden aus Angst vor Übergriffen durch Muslime den Wohnort wechselten. Radikale Islamisten hätten zudem eine Terrorherrschaft über die Muslime in Frankreich errichtet.
Das Manifest fordert, dass sich muslimische Autoritäten von den Koranversen distanzieren. Zu den Unterzeichnern des Manifests gehören unter anderem Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, der Schauspieler Gerard Depardieu sowie der Schriftsteller Eric-Emmanuel Schmitt.
Muslime und radikale Islamisten
Im letzen Teil fordert das Papier die führenden islamischen Theologen auf, jene Koranverse für überholt zu erklären, die zu Mord und Bestrafung von Juden, Christen und Nicht-Gläubigen aufrufen, so wie dies das Zweite Vatikanische Konzil im Falle eines aus der Bibel abgeleiteten "katholischen Antisemitismus" getan habe. Es gehe darum, dass kein Anhänger einer Religion sich mehr für ein Verbrechen auf einen heiligen Texte berufen könne.
Auch der frühere Präsident des des französischen Islamrats, Anouar Kbibech, wurde gefragt, ob er unterschreiben wolle. Doch Kbibech lehnte ab. Er kritisierte, der Text werfe Muslime und radikale Islamisten in einen Topf. "Es wird angedeutet, dass jeder Muslim potenziell Antisemit ist", so Kbibech. Der Oberrabbiner Frankreichs Haim Korsia unterschrieb dagegen das Manifest. Endlich würden die Dinge beim Namen genannt. "Der Text zeigt, dass es Menschen gibt, die sehen, dass etwas Unerträgliches passiert."
Spitze des Eisbergs
Die Liste der Anschläge gegen Juden in Frankreich ist in den der vergangenen Jahren lang und länger geworden. Die Geiselnahme in einem Supermarkt für koschere Lebensmittel im Osten von Paris 2015, die Ermordung von Sarah Halimi im April 2017 und der Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll vor einigen Wochen sind nur die Spitze des Eisbergs.
Insgesamt gab es in Frankreich 2017 zwar sieben Prozent weniger antisemitische Vorfälle. Gleichzeitig ist die Anzahl der besonders schwerwiegenden und gewalttätigen Delikte, nicht nur antisemitische, sondern aller Art, um 26 Prozent angestiegen. Ein Drittel davon richtete sich gegen Juden.
Schaden der Reden
Unterdessen erhoben 30 französische Imame ihre Stimme gegen Antisemitismus und Terrorismus in Frankreich. "Wie die Franzosen sind wir empört und betroffen vom schändlichen Terrorismus, der uns alle bedroht", schrieben sie in einem am Dienstag veröffentlichten Beitrag für die französische Zeitung "Le Monde". Mit Besorgnis beobachte man, was ein radikaler Islam bei Jugendlichen ohne Halt und religiöses Wissen anrichte. Gefragt seien aber auch die Vorbeter. "Viele Imame realisieren noch nicht, welchen Schaden ihre Reden im Bezug auf unsere Gesellschaft und Epoche auslösen können."
Zugleich warnen auch die 30 Imame ähnlich wie Anouar Kbibech davor, alle Muslime über einen Kamm zu scheren. Was also tun? Der Islamwissenschaftler und Historiker Rachid Benzine fordert in einem Interview mit der französischen Zeitung "La Croix" einen anderen Umgang mit dem Koran. "Wir müssen unseren Mitbürgern dringend beibringen, jeden Text, auch jeden religiöse Text, kritisch zu lesen", mahnt er.
"Nicht die gleiche ohne die Juden"
Nur so habe sich letzten Endes auch bei den Katholiken die Einstellung zu den Juden geändert, so Benzine mit Blick auf die entsprechenden Ausführungen in Manifest gegen einen "neuen Antisemitismus".
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron meldete sich gar aus den USA zu Wort. Über Twitter teilte er mit, es sei elementar, die Juden zu schützen. "Die Französische Republik wäre nicht die gleiche ohne die Juden. Sie gehören zur Republik", schrieb er. Gleichzeitig hatte er darauf hingewiesen, dass es auch einen "alten französischen Antisemitismus" gebe.
Macron hat sich zuletzt mehrfach für einen staatlich begleiteten Dialogs mit den Religionen ausgesprochen - trotz der Trennung zwischen Staat und Kirche in Frankreich. Die aktuelle Debatte um das Manifest zeigt: Die Zeit dafür ist reif.