Turin wirkt auf den ersten Blick nicht gerade wie ein Ort, der ein großes Rätsel birgt. Vor der Reißbrettkulisse der norditalienischen Industriestadt erscheint jenes geheimnisvolle Stück Stoff, das in einer Seitenkapelle des Doms aufbewahrt wird, geradezu als Fremdkörper: das Grabtuch von Turin. Von Sonntag an wird es erstmals seit fünf Jahren wieder öffentlich gezeigt. Für die Schau haben sich bereits mehr als eine Million Besucher angemeldet.
Bis 24. Juni können Pilger das Leinen, das von Katholiken als Darstellung des Antlitzes Jesu nach der Kreuzigung verehrt wird, im Turiner Dom aufsuchen. Anlass ist das 200. Geburtstag des heiligen Johannes Bosco (1815-1888). Der Ordensgründer der Salesianer wirkte in der norditalienischen Stadt als Jugendseelsorger. Papst Franziskus reist am 21. Juni nach Turin, um vor dem Grabtuch zu beten. Im April und Mai 2010 kamen zur Ausstellung des Turiner Grabtuchs mehr als zwei Millionen Besucher. Seit 1898 wurde es bislang achtmal für einen längeren Zeitraum öffentlich gezeigt.
Streit um die Echtheit
Das Turiner Grabtuch ist 4,36 mal 1,10 Meter groß und zeigt den Doppelabdruck eines kräftig gebauten, 1,81 Meter großen Mannes mit Bart und langem Haar. Auch im Jahr 2015, nach einer über 100 Jahre währenden wissenschaftlichen Debatte, streiten die Forscher immer noch darüber, ob das Tuch echt ist oder nicht. Hat sich auf diesem Stück Stoff tatsächlich ein naturgetreues Porträt Jesu erhalten? Und: Wie konnte dann der Abdruck auf das Gewebe gelangen Oder handelt es sich doch nur um eine mittelalterliche Fälschung?
Chemische Analysen und physikalische Untersuchungen, fromme Überzeugungen und weltanschauliche Vorurteile prallen in der Debatte über die Echtheit des Grabtuchs aufeinander. Für Außenstehende ist es schwer, die Stichhaltigkeit der jeweiligen Argumente zu beurteilen. Die Ursprünge des Leinens liegen bis heute im Dunkeln. Nach Ansicht einiger Fachleute soll es identisch mit dem sogenannten Abgar-Tuch sein, das in Spätantike und Mittelalter im südanatolischen Edessa in der heutigen Türkei verehrt wurde. Dieses Leinen gelangte später nach Konstantinopel und verschwand dort während der Plünderung der Stadt durch die Kreuzfahrer 1204. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wird es in Frankreich erwähnt. Fest steht immerhin soviel: Seit 1578 befindet es sich dauerhaft in Turin.
Das wohl besterforschte Stock Stoff
Am Anfang der wissenschaftlichen Erforschung des Grabtuchs stand ein Foto. In der Dunkelkammer sah der italienische Hobbyfotograf Secondo Pia 1898 das Negativbild, das deutlich die Gesichtszüge eines Mannes im mittleren Alter zeigte. Der Körper wies Spuren zahlreicher Verwundungen auf, die zu der von den Evangelien beschriebenen Geißelung, der Dornenkrone und dem Lanzenstich passten. Die Wissenschaftler blieben jedoch zunächst skeptisch. Physiker, Chemiker und Biologen untersuchten das Leinen in der Folgezeit so häufig, dass es mittlerweile als das besterforschte Stück Stoff gilt. Spuren von Pollen und Sporen verwiesen auf Pflanzen des östlichen Mittelmeerraums; das Material und seine Fertigung passten zur Zeit Christi, hieß es.
Einen schweren Schlag für all jene, die von der Echtheit des Tuches überzeugt waren, stellte 1988 das Ergebnis eines Radiokarbontests dar. Wissenschaftler dreier Universitäten kamen unabhängig voneinander zum Ergebnis, dass es aus der Zeit zwischen 1260 und 1390 stamme. Aber auch dieser Befund wurde bald infrage gestellt: Das Ergebnis sei durch spätere Verunreinigungen, durch Löschwasser eines Brandes von 1532 und durch aufgesetzte Stoffflicken verfälscht worden. Das letzte Wort über das Alter des Grabtuches ist daher nach Ansicht vieler Fachleute immer noch nicht gesprochen.
"Die Sicherheit des Glaubens"
Die katholische Kirche hat sich in die Debatte nicht eingemischt. Eine offizielle Stellungnahme über die Echtheit des Grabtuchs hat sie bis heute nicht abgegeben. Es ist daher auch keine Reliquie im strengen Sinne. Papst Johannes Paul II. (1978-2005) sagte 1998 in Turin, die Wissenschaft müsse über die Echtheit des Tuches entscheiden. Die Kirche besitze hierfür keine "besondere Kompetenz". Er rief die Forscher auf, ohne Vorurteile ans Werk zu gehen. Benedikt XVI. (2005-2013) bezeichnete es 2010 als eine Hilfe für den Glauben.
"Die Wissenschaft gibt keine Antworten; ihre Antworten sind unsichere Zufälle", sagte Turins Erzbischof Cesare Nosiglia kürzlich mit Blick auf das Grabtuch. Doch das ist aus seiner Sicht kein Grund zur Beunruhigung für die Gläubigen. "Gegenüber dieser Unsicherheit haben wir die Sicherheit des Glaubens." Einen schlagenden Beweis gegen die Echtheit des Grabtuchs gebe es bis heute nicht.